Simone Regina Adams «Usambaraveilchen, Schrankpapier»

Oma stirbt. Als Kind hielt ich sie für unsterblich. Noch einmal betrete ich ihr düsteres kleines Haus durch die Hintertür. Ich setze den Fuß auf die Steinstufe, die so abgetreten ist, dass sie müde in der Mitte durchzuhängen scheint; diese eine Stufe geht es hinauf, dann hinter der Schwelle zwei gekachelte Stufen hinab und ich stehe in der Waschküche.
Gleich neben der Tür hängen Küchenschürzen, links steht der Holztisch, ein Wachstuch darauf, vom vielen Schrubben farblos geworden; vor mir der grauweiße Spülstein, mit dunklen, abgeschlagenen Kanten, der Boiler darüber.
Dann die frühere Küche, ein Durchgangsraum mit gefliestem Boden und einem dünn gewordenen Webteppich. Der Kühlschrank brummt vor sich hin. Der Gasherd steht daneben, abgedeckt, ein kariertes Tuch ist darüber gelegt. Hier ist es kalt; seit ein paar Jahren kocht Oma ihr Essen auf den zwei Elektroplatten im angrenzenden Zimmer. Ich schaue hinein.
Über der Eckbank hängt an der Wand eines dieser Holzscheibchen mit dem aufgeklebten Erinnerungsbild eines Ortes, mit Geranien, See und knallblauem Himmel; auf dem Beistelltisch steht ein Trockenstrauß, ein Engelsfigürchen, ein Jesusbild. Auf dem Tisch ein Korb mit Orangen und welken Delicious, eine Tüte mit altem Rosinenbrot, die Brotmaschine, von Hand zu kurbeln. Dahinter der Wandschrank, den ich als Kind mit Schrankpapier auszulegen hatte, und in dem sich immer eine Dose mit Mandarinen befand; auch ohne ihn zu öffnen, sehe ich das Besteck darin mit den bunten Griffen und das blumige Porzellan.
Fast alle Schränke in diesem Haus sind in die Wand eingelassen, in die Mauern des Hauses hineingedrückt, wie der Schrank mit dem Putzzeug unter der Treppenschräge, auch die Garderobe im Flur; sie scheint in der Wand verschwinden zu wollen, mitsamt dem dunklen Mantel, den Schals, dem schwarzen Schirm und dem Pelzkragen mit dem Fuchskopf an einem Ende. Hier stand ich als Kind, wenn die Glocken zur Messe riefen; ich wartete, bis Oma das Gebetbuch aus der Schublade genommen, den Mantel angezogen und den Pelz umgehängt hatte, so, dass der Fuchs mich mit seinen gläsernen Augen anstarren konnte, wenn Oma mich an der Hand nahm und mit mir zur Kirche ging.
Und da ist die Tür zur Stube. Dort liegt Oma. Nicht mehr auf dem Sofa, auf dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hielt, sondern in einem Krankenbett. Das Sofa war immer das Herz, das Zentrum des ganzen Hauses gewesen; das Sofa, von dem aus ich kaum den Tisch überblicken konnte als Kind, auch wenn ich auf einem der rot bestickten Kissen saß oder auf der Wolldecke aus den vielen verschiedenen bunten Flecken, von den Pfarrfrauen gestrickt und zusammengenäht; der Hauptgewinn der Verlosung beim Kirchenbasar.
Jeden Samstag, wenn ich dort in der Stube saß mit Oma und Mama, begann nach dem Essen das Putzen und Abstauben, angefangen mit der Kommode und dem holzverkleideten Radio: diesem großen Kasten mit den geheimnisvollen Wörtern in goldener Schrift: HILVERSUM, MILANO, HELSINKI; mit den vielen perlmuttweißen Knöpfen zum Drücken und den braunen zum Drehen, dem stoffbezogenen Lautsprecher, aus dem immer erst ein Knacken und Rauschen und dann eine dröhnende Stimme kam. In der oberen Klappe versteckt ist ein kleiner Plattenspieler, mit Heintje und Froschkönig; wenn der Tonarm über der schwarze Scheibe zitterte, quakte heiser und kläglich der Frosch: „Königstochterjüngste, mach mir auf! Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Am Brunnen, als ich dir die goldene Kugel holen musste …“
Doch beim Samstagnachmittagsputz blieb der Plattenspieler versenkt, nur die Madonna in der Muschelwand und die gerahmten Fotos auf den Spitzendeckchen wurden abgestaubt; auch beim Tisch mit dem Fernseher wurde alles hochgehoben, abgewischt und zurückgestellt, die dicke Kerze im Messingständer und sogar die zwei Brillenmäppchen auf dem Papierstapel von Zeitungen, Prospekten, dem Kirchenblatt.
Dort in der Stube saß ich als Kind auf dem Teppichboden, sortierte die Gummibärchen der Farbe nach, malte die Osterhasen in meinem selbstgebastelten Kalender bunt und baute Männchen aus Weinflaschenkorken. Oder lag auf dem Sofa, wartete auf das Essen und langweilte mich, betrachtete den Christus im goldenen Rahmen über mir mit seinen leidvollen Augen und dem lieblichen Lächeln. Opa auf dem Foto daneben schaute streng auf den Tisch herab, an dem Oma vor jeder Mahlzeit betete, kommherrjesus, seiunsergast; ich faltete die Hände wie sie und murmelte dazu; dann gab es Suppe mit Rindfleisch und Mayonnaise, und zum Kaffee Marmorkuchen und Obstkuchen vom Blech.
Ich stehe im Flur, neben dem Kippschalter für das Licht im Keller; eine Holztür führt dorthin, um sie zu öffnen, muss der Eisenhaken angehoben und zur Seite gedreht werden. Ich erinnere mich an das Kellergewölbe, den Kartoffelgeruch, die Äpfel auf den Holzstellagen. Später traute ich mich allein hinunter, doch auch dann noch war ich erleichtert, wenn ich wieder oben war.
Im ersten Stock ist Omas Schlafzimmer, das große Ehebett, in dem sie seit den Sechziger Jahren, seit Opas Tod, alleine schlief, wenn ich nicht gerade neben ihr lag. Es hat Matratzen wie für die Erbsenprinzessin; Matratzen, in denen ich einsank als Kind; die dicke, abgegriffene Kordel hielt ich fest in der Hand; wenn ich daran zog, ging das Licht wieder an. Dann sah ich die weißen Styroporplatten an der Decke und den Lampenschirm, hell, mit Blüten bemalt wie ein Lampion. Der Nachttopf unterm Bett und an der Wand die ewig tickende Uhr; immer schlief ich dort, neben Oma, nie in dem Zimmer nebenan, in dem Mama groß wurde; es ist ein kleines Zimmer, mit Kommunionsbildchen an der Wand. Und dahinter gibt es noch einen kaum benutzten Raum, mit wurmstichigen dunklen Holzmöbeln; auch da ein Wandschrank, den Oma feierlich öffnete; ihre Schätze darin: eingemachte Kirschen, Birnen, Zwetschgen und Marmelade. Sie übergab mir andächtig ein Glas, das ich mit beiden Händen halten sollte, wenn ich es zur Stube hinunter trug.
Später dann half ich beim wöchentlichen Putz, ich schrubbte die Treppe mit der Bürste, wischte jede Stufe mit dem Lappen nach, und den Gehweg draußen musste ich kehren; die immer gleichen Aufgaben an jedem Samstagnachmittag; danach fühlte ich mich befreit und froh, wenn Mama mit mir nach Hause fuhr.
Aber vorher ging Oma mit mir zum Schrank in der Stube, dort lag der Geldbeutel neben der Suppenterrine; eine Münze oder einen Schein bekam ich zur Belohnung, sie bekam ein Küsschen; und dann stand sie an der hinteren Türe und winkte uns nach, mit einer kleinen verstohlenen Handbewegung, eher so, als würde man einen Popo tätscheln.
Noch immer stehe ich im Flur. Oma wird sterben, man wird sie aus dem Haus tragen, nicht weit hat sie es bis zum Friedhof hin.
Soll ich hinein gehen?
Was werde ich sehen?
Die fast blinden Augen, den schmalen Mund, das Gesicht, das so ernst und bitter aussehen konnte. Angst hatte ich manchmal vor ihr, als Kind, wenn sie mit mir schimpfte; Angst vor dieser Härte, die kurz, unerwartet hervorblitzte und mich dann erschreckte, so wie der Jesus, der
verrenkt am Mahagonikreuz hing, so wie das Bild der Madonna mit den blutenden Augen. Den zarten Kopf mit dem edlen Gesicht hatte sie zur Seite geneigt, in den Augenwinkeln glänzten dicke Tropfen, leuchtend rot wie Nagellack.
„Oma, warum hat die Madonna so rote Augen?“
„Sie hat so viel weinen müssen, Kind, bis sie keine Tränen mehr hatte. Da hat sie Tränen geweint aus Blut.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen so böse sind. Darüber weint sie.“
Ich fragte nichts mehr.
All ihre Gebete, Vaterunser und Mariamitdemkindelieb, immerzu; jedes Gebet eine Münze, um sich einzukaufen, um sich einen Platz zu sichern im Paradies. Aber hat sie nicht manchmal in sich hineingelacht, mich auch gelobt und Verständnis gezeigt? Oma eine Insel, Zuflucht und ein
böser, gefährlicher Drache; nachts schnarchte sie laut und ich träumte vom bösen Wolf, der mich fraß.
Ich öffne die Tür zur Stube. Ich gehe hinein.
Auf diese Leute war ich nicht gefasst. Was tun sie hier? Nachbarn, entfernte Verwandte, die ich nicht kenne, sie sitzen schweigend auf Stühlen wie vor einer Bühne, starren auf ihre Hände oder das stille Schauspiel vor ihnen; langsam nicken sie mir zu.
Und da liegt Oma. Ich erschrecke. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie trägt kein Gebiss. Sie braucht es nicht mehr.
Die Wangenknochen sind immer noch breit und markant, doch die Haut darüber ist dünn geworden. Ihr Mund ist weit geöffnet, die Augen hat sie geschlossen. In diesem Gesicht ist der Schmerz so unverhohlen zu sehen, dadurch wirkt sie so fremd. Sie ist beinahe schön.
Ihr langes, weißes Haar ist offen und weich wie bei einem Mädchen; nur von einem Haarband aus der Stirn gehalten, fließt es seitlich über die Kissen. Ein goldenes Kettchen trägt sie um den Hals. Sie hat hohes Fieber, ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ich halte ihre Hand, die trockenen Finger biegen sich nach innen. Sie ist nur noch Atem, Wärme und Körper; krank riecht sie, intensiv.
Nach und nach sind alle gegangen. Ich habe Angst davor, dass Oma stirbt, während ich ihre Hand festhalte; Angst davor, mit ihr und dem Tod alleine zu sein. Ich sollte mit ihr reden, ich müsste laut mit ihr sprechen, es fällt mir schwer. Eine Kerze habe ich angezündet und das grelle Licht ausgeschaltet, nur das sage ich ihr: Oma, ich hab eine Kerze für dich angemacht. Dann bin ich wieder stumm. Ich habe nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen, nichts, das wichtig wäre; außer, dass ich da bin.
Noch einmal zusammen Kaffee trinken, denke ich, noch einmal das alte Ritual. Ich gehe in die Küche, stelle den Kessel auf die Herdplatte, schütte das Kaffeepulver in den Filter, so wie früher.
Die große Standuhr in der Stube schlägt schon lange nicht mehr. Ich öffne die Tür des Gehäuses und versuche, sie aufzuziehen. Es tönt in ihr, doch die alte Melodie fehlt, es ist nur noch ein leiser, zitternder Hall. Die Messingstäbe, die ich mit den Fingern berühre, klingen nach, aber die Tonfolge kriege ich nicht hin, dabei ist sie in mein Inneres gebrannt. Diese Uhr würde ich niemals haben wollen, bloß die Töne, die aus ihr kamen, alle Viertelstunde.
Der Kessel pfeift.
Ich trinke den Kaffee, und auch von dem Kuchen esse ich, der in der Küche stand; ich staune über mich selbst. Der leichte Ekel, den ich gespürt hatte, als ich hereinkam, hatte mich erst daran gehindert, zu essen. Und jetzt tue ich es doch. Marmorkuchen, trocken und krümelig, schwer zu schlucken. Ich trinke den Kaffee dazu. Es ist ein letztes gemeinsames Kaffeetrinken, auch wenn Oma nicht mehr neben mir sitzt, erzählt und mir zuhört, sondern dort liegt und mit dem Tod kämpft.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich warte auf meine Ablösung und bin erleichtert, als endlich jemand kommt. Ich rufe Oma und sage ihr, sie soll mich noch einmal anschauen.
Tatsächlich öffnet sie die Augen und blickt mich an; ich komme ihr näher, damit sie mich genauer sieht. Eine Träne läuft über ihre Wange.
Ich bin nicht mehr alleine mit ihr. Ich verabschiede mich.
Hätte sie gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte? Was hätte sie sagen wollen? Was hätte ich sagen wollen, wo mir doch die Worte fehlten?
In der Nacht werde ich wach. Der Kaffee ist mir auf den Magen geschlagen; ich bin unruhig und denke, dass Oma vielleicht in diesem Moment stirbt. Aber sie ist erst später gestorben, am Abend darauf.
Ein Leben, fast so lang wie ein Jahrhundert, ist zuende. Sie, die sonst alles im Griff hatte, meistens kühl und gefasst war und mir so unbezwingbar erschien; nur einmal habe ich sie anders gesehen, aufgelöst, kämpfend – und schließlich ergeben.
Zehn Jahre ist das her. Manchmal träume ich, weniger von Oma als von ihrem Haus. Nachts, in meinen Träumen ist alles noch da, steht alles am alten Platz. Dabei ist das Haus längst abgerissen, verschwunden.
Bei Tage ist es eine versunkene Welt; nur einzelne Dinge und Worte bleiben sichtbar trotz der Tiefe, in der sie liegen. Sie schimmern geheimnisvoll unter Wasser, vermooste, verrostete Wracks; Begriffe wie: Spülstein, Boiler und Bettumrandung, Usambaraveilchen und Schrankpapier.

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Flugfedern» auf literaturblatt.ch

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