Es geht nicht immer gut aus. Manchmal ist es wenigstens knapp. Oder es steht noch nicht fest, ob sich die Sache nicht doch noch zum Guten wendet. Wie bei Bederitzky, dem Taxifahrer, der nachts unterwegs ist, weil es sich dann wenigstens ein bisschen lohnt im Gegensatz zu tagsüber, wo es sich nicht mehr lohnt. Und in dessen Taxi wir immer wieder lesend einsteigen, der uns so durch eine Berliner Nacht führt wie fährt, durch den Prenzlauer Berg, durch Charlottenburg, durch Berlin Mitte und all die Strassen dazwischen. Also, wenn neben oder hinter ihm ein Fahrgast sitzt.
Stimmt so.
von Frank Keil
Willkommen in Berlin – der, wenn man als Deutscher ehrlich ist – einzigen Grossstadt Deutschlands, wenn man mehr erwartet, als nur eine grosse Stadt. Und versprochen ist ein Berlin-Roman und das ist jetzt eine ganz hohe Hürde, die da genommen werden will; ist ein heikles Versprechen. Aber Thorsten Nagelschmidt schafft es, leitet er uns doch mit leichter Hand, klarem Blick und einer wortwörtlichen Unermüdlichkeit in seinem rasant-brachial-empfindsamen Roman „Arbeit“ durch die Berliner Nacht und stellt uns deren Bewohner vor: die einen schlafen, aber die anderen arbeiten. Arbeiten, damit die anderen schlafen können. Ob es sich für sie lohnt, also für die, die arbeiten? Finden sie wenigstens ein bisschen Glück?
Und dazu wieder eingestiegen bei Bederitzky (der eigentlich aus der DDR stammt, diesem anderen deutschen Staat, also, als es ihn noch gab, fest und unwidersprochen, nicht, als er schon sinnbildlich in Trümmern lag, wie wir noch erfahren werden und der auf den Vornamen Heinz-Georg hört, Heinz-Georg Bederitzky). Dabei ist gerade – Funkstille; Pause, niemand will mit, niemand will irgendwohin und Bederitzky ist dennoch unterwegs. 60 Minuten kurvt er bereits durch die Stadt, fährt durch Kreuzberg und Neukölln, schaut und sucht, aber niemand braucht ihn und dann will doch einer mit. Steigt dazu ein, riecht nach Parfüm, viertel nach Zwölf ist es auf der Uhr. Und wo will er hin, der parfümierte Fahrgast, mit einem Stück Pizza vom Pizzaschnellimbiss in der Hand? Eine weite Strecke, eine lange Strecke soll es werden. Nach Halle an der Saale, weil Zugausfall. Halle an der Saale, sieh‘ an, denkt sich Bederitzky, da warst du lange nicht mehr.
Und auch endlich eine Fahrt durch die Nacht, die lohnt, aber so richtig, denkt er. Und dann klingelt Bederitzkys Telefon, Freisprechanlage, versteht sich. Anna ist dran, seine Liebste, die einen der legendären und besonders bei Touristen so beliebten Späti betreibt, dabei hatte sie in diesem Leben eigentlich was anderes vor, als hinter dem Tresen eines Spätverkaufs bis eben spät zu stehen, aber was will man machen. Und nun zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen, von so einem Bubi, einem Jugendlichen mit einem Messer, ein halbes Kind noch, aber Überfallen ist nun mal Überfallen. Sie bräuchte jetzt seine starke Schulter, selbst wenn die nicht stark ist, Hauptsache Schulter, seine. Aber er hat doch jetzt einen Bord, der nach Halle an der Saale will, für 350 Euro, immer geradeaus. Soll er den raussetzen? Und Anna schreit ins Telefon, bricht das Gespräch ab, sie wird sich schon wieder beruhigen, aber was, wenn nicht?
Ein Kapitel heißt: Sag jetzt nichts. Ein Kapitel heisst Zwölf Stunden sind kein Tag. Ein anderes hört auf den Namen Wenn’s um Geld geht Arschkarte.
So fahren wir durch die Nacht, sind mal kurz und dann mal länger bei Bederetzky ausgestiegen, keine Sorge: man trifft sich wieder. Lernen Leute kennen, die zur Nacht gehören wie die Nacht zu diesen Leuten. Felix etwa, 39 Jahre jung. Der Drogen vertickt, aber selbst keine nimmt, also er hat sich vorgenommen, dass er besser die Finger lässt von all dem Zeug, dass er da verkauft, seine Wohnung ein Drogenumschlagplatz und was sind das immer für Typen, die bei ihm in der Küche sitzen und schon mal probieren, was sie kaufen wollen oder gekauft haben in grösseren Mengen, wieso gehen die nicht wieder, wieso quatschen die sich immer fest und hocken auf seinen Küchenstühlen wie angeklebt und haben beste Laune, während seine immer schlechter wird?
Wir lernen Marcela kennen, die sich in Berlin ein besseres Leben erträumt als daheim in Kolumbien und die per Fahrrad Essen ausliefert für die, die keine Lust zum Kochen haben und keine Lust zum Einkaufen oder gleich beides, und es ist doch irre praktisch, da gibt es so eine App, da tippt man was ein und dann kommt Marcela und bringt das Gewünschte (Sushi, Italienisch, vielleicht auch was vom Spanier), hoffentlich dauert es nicht so lange und ist noch warm. Wir lernen Tanja kennen, die Rettungssanitäterin, die neben dem Studium jobbt, dabei müsste sie lernen ohne Ende, denn was studiert sie, Medizin natürlich. Weshalb sich Tarek, ihr Kollege, mehr als Sorgen macht, wie sie das schaffen soll, nachts arbeiten, tagsüber studieren und dazwischen noch lernen, das funktioniere doch nicht, sagt er ihr immer wieder, während sie unterwegs sind, mit Sondersignal, um zu retten, was noch zu retten ist, aber Tanja will das nicht hören, was wäre denn die Alternative und überhaupt: Was will Tarek von ihr? Doch nicht etwa? Oh, je! Und noch immer ist die Nacht nicht zu Ende, so eine Nacht ist lang, sie ist verdammt lang. Besonders für die, die arbeiten müssen, für die, die nicht wissen, wohin sonst.
Nagelschmidt (der gleichzeitig Musiker der Berliner Band „Muff Potter“ ist) geht nah heran, er bleibt seinen Protagonisten nah, er verlässt sie nicht und er verrät sie nicht. Egal, wie schräge sie drauf sind, wie seltsam sie mit sich umgehen und wie mit anderen, er will wissen, wie es ihnen geht und er will erkunden, warum sie tun, was sie tun und wie es ihnen dabei geht. Und er schaut nicht von oben herab auf sie herunter, er ist in einem fast schon christlichen Sinne bei ihnen, wobei man das „fast“ ruhig streichen kann.
Und das alles drückt sich auch in seiner Sprache aus: direkt, schnörkellos, alltagsnah und manchmal fast protokollhaft. Schnelle, kurze Sätze, viele und vor allem gute und sehr Dialoge. Ein stetes Ineinanderfliessen von Beobachtetem, Kommentiertem und dem, was im Moment geschieht, während die verschiedenen Protagonisten und Helden, von vielleicht Gewinnern und vielleicht Verlierern sich in dieser einen Nacht begegnen, mit einander sprechen, manchmal auch kreuzen sich nur kurz ihre Wege, ohne dass ein Wort fällt. Und nie ist der Autor derbe dabei oder obszön oder künstlerisch aufgeladen tabuverletzend, wie das oft genug vorkommt, wenn da ein Schreibender aus besserem Stall sich mal auf die Strasse wagt oder das, was er für die Strasse hält. Und dann so richtig vom Leder zieht, weil es ihm gut tut, egal, was die Menschen, über die da einer schreibt und die einer schreibend erfasst, damit anfangen können und ob es ihnen hilft oder ob es ihnen wenigstens ihre Würde lässt.
Und nicht zuletzt ist „Arbeit“ ein hochpolitischer Roman. Er fragt danach, wer des Nachts den Laden am Laufen hält, wie es heute auf neudeutsch heisst. Wer zahlt den Preis? Wer macht den Rücken krumm und macht doch immer weiter? Wer bringt uns von A nach B, wer passt auf uns auf, wer stellt im Spätverkauf rechtzeitig den Sekt kalt, damit kalter Sekt da ist, wenn uns nach kaltem Sekt ist, wer räumt den Dreck weg, die Scherben, den Müll, die Absperrbänder, rund um die Uhr und eben nachts, wenn es zwischendurch mehr als tiefdunkel ist – es ist eine nur sehr begrenzt romantische Welt, diese Nacht, für die, die dann arbeiten müssen, was immer sie auch tun und auch für die, die wenigstens in der Nacht ein wenig Halt und Schutz und Orientierung finden und haben, wenn es hell wird, wird für sie die Welt nicht unbedingt besser.
Ach ja: Ein Kapitel heisst Stimmt so. Eine Floskel, die man sich abgewöhnen sollte, dringend.
Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 im Münsterland, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher «Wo die wilden Maden graben» (2007), «Was kostet die Welt» (2010) und «Drive-By Shots» (2015). Zuletzt ist von ihm der Roman «Der Abfall der Herzen» (2018) erschienen. Thorsten Nagelschmidt lebt in Berlin und veranstaltet dort die Lesereihe «Nagel mit Köpfen».
Beitragsbild © Thorsten Nagelschmidt (vom Autor selbst geschaffener Linoldruck!, hier abgebildet mit freundlicher Genehmigung des Autors)