Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber, heuer mit dem Solothurner Literaturpreis 2024 für ihr Lebenswerk geehrt, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris, einem Sehnsuchtsort vieler, einer Stadt, die wie kaum eine andere mit Klischees verhängt ist. „Bannmeilen“ ist der beeindruckende Versuch der Schriftstellerin, jenen Teil ihrer Stadt zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb.
Anne Weber lebt und schreibt dort, wo andere Ferien machen – in der „Stadt der Liebe“. Eine ebenso irrwitzige Bezeichnung wie Ausblendung immer krasser werdender Gegensätze. Eine Blendung, der auch ich verfalle, einer Blendung, die zeigt, wie Wahrnehmung mit Wissen, mit Bereitschaft zur Aueinandersetzung verzahnt ist. Anne Weber liebt „ihre“ Stadt – und vielleicht ist genau diese Liebe der Ursprung für ein Abenteuer, dass der Schriftstellerin ihren Lebensmittelpunkt ganz neu erschliessen sollte.
Im Sommer 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Wie immer bei solchen Mega-Sportevents will sich der Austragungsort von der besten Seite zeigen. Man baut und pflanzt, man gräbt und schleift. Die Erzählerin im Buch bittet ihren Freund Thierry, der einen Film über die Auswirkungen der Olympischen Spiele drehen will, ihn auf seinen Recherchestreifzügen begleiten zu dürfen. Thierry will wissen, wie sich Paris verändert, sein Paris, auch wenn er im Gegensatz zur Erzählerin, einen ganz anderen Bezug zur Stadt hat. Thierry ist algerischer Abstammung, zwar in Paris geboren und aufgewachsen, aber ganz anders sozialisiert wie sie, sie, die einst aus Deutschland in die Stadt an der Seine zog und dort wohnt, wo Einheimische und Touristen in Strassencafés Kaffee trinken und an noblen Schaufenstern vorbeispazieren. Thierry selbst ist in den Banlieues aufgewachsen, dort, wo sich normalerweise kein Tourist hinverirrt, in jenen Teil der Stadt, ein Vielfaches grösser als das Postkarten-Paris, in dem Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit grassiert.
Die beiden machen sich zu Fuss auf einen langen Weg durch jenen Teil der Stadt, der von Schnellstrassen und Autobahnen durchzogen, von schmutzigem Beton zugepappt, von Müllhalden gezeichnet und von der nach Idylle lechzenden Gesellschaft vergessen vor sich hindämmert. Dort gibt es kein Flanieren, schon gar keine einladende Bank in einem lauschigen Park, keine Läden, keine Cafés. Dafür Wohnsilos für Abertausende, Bauruinen, kaputte Strassen, Obdachlose, Zugefixte, Sans-Papiers, die unter Brücken hausen und schwarz gekeidete Chouffeurs, die allerorts auf Kundschaft lauern. Hinein in die Gegenden auf der anderen Seite des Boulevard périphérique, einer Ringautobahn rund um den Vorzeigeteil der Stadt Paris. 600 Kilometer auf unzähligen Streifzügen, für die beide den Blick des jeweils anderen brauchen. Sie beide spiegeln sich, in dem was sie mit ihrem Blick lesen, was hängen bleibt und zu Gespächen während ihrer Wanderungen führt. Paris ist viel mehr als der Eiffelturm, der Louvre und die Notre Dame. Paris pumpt sich dort auf, wo sich im Sommer der kollektive Blick bündelt, ungeachtet dessen, dass es für alle jene, die dort wohnen, oder auch von dort verdrängt werden, damit nicht besser wird.
Anne Weber spinnt in all die Streifzüge Geschichten. Thierry und die Erzählerin treffen sich immer wieder in einem der seltenen Cafés in den Banlieues, im Le Montjoie von Rachid, der mit jedem Besuch etwas mehr Vertrauen in die beiden fasst und zaghaft zu erzählen beginnt. Mitgenommene Geschichten wie jene des algerischen Marathonläufers Boughera El Ouafi, der bei den Olympischen Spielen 1928 für Frankreich zwar eine Goldmedaille erlief, der aber nach Profiläufen in den USA seinen Amateurstatus verlor, nicht mehr an Wettkämpfen zugelassen wurde, nach geschäftlichem Unglück immer mehr verarmte und schlussendlich durch eine Pistolenkugel sein Leben in der Bedeutungslosigkeit verlor. Ein Mann, der für einen kurzen Moment ruhmreicher Franzose sein durfte, begraben in einem vermüllten Pariser Friedhof.
Anne Webers „Roman in Streifzügen“ ist ein Bekenntnis zu den Schattenseiten, eine Vergewisserung des Andersartigen, eine Annäherung an eine fremde Welt. Es gibt diese Ausblendungen urbaner Tatsachen überall. Zu hoffen ist, dass das Café Le Montjoie von Rachid nicht zu einem Hotspot alternativer Reiserouten durch das unentdeckte Paris wird. Zu hoffen ist, dass Paris nach den Olympischen Spielen gewonnen hat. Nicht das Paris der Boulevards, sondern das Paris der Banlieues. Jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.
Die fünfköpfige Jury des Solothurner Literaturpreises ehrt die deutsche Autorin Anne Weber für ihr Gesamtwerk. Der Preis ist mit 15’000 CHF dotiert und wird zum 31. Mal verliehen.
In der Begründung der Jury zum Solothurner Literaturpreis heisst es: «Ob historischer Stoff, politisches Verhängnis oder gescheiterte Liebesgeschichte: Anne Weber stellt sich mit jedem Buch einer neuen Herausforderung. Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus, wobei sie darauf bedacht ist, ihrem Lesepublikum eine Rolle der aktiven Teilnahme zu gewähren. Anne Weber wird für ein schriftstellerisches Werk von formaler und thematischer Vielseitigkeit und Experimentierfreude ausgezeichnet, das vom Essay über den Roman bis zum Epos reicht.»
Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.
Anne Weber an den Solothurner Literaturtagen 2024
Rezension von «Kirio» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Bruno Boudjelal