Iris Wolffs Sprache schmeichelt einem. Sie mäandert, trägt ganz behutsam Schicht für Schicht ab. Iris Wolff will keine Geschichte zu Ende erzählen. Sie wirft einen Stein in die Geschichte einer Familie und es ziehen Wellen weg vom Zentrum des Geschehens, entschwinden aus Sichtweite, um sich mit anderen Wellen zu kreuzen. Ein schmaler Roman, der ein ganzes Jahrhundert birgt, in einer Sprache erzählt, die fasziniert und in höchstem Masse bezaubert.
«Roman in vier Erzählungen» ist dem Buch vorangestellt und jedem dieser vier Erzählungen, die ganz fein miteinander verbunden sind, durch die Linie einer Familie, diesem Band, wonach man sich sehnt, diesem Band, dass so leicht reissen kann, ein einzelner Satz aus der jeweiligen Erzählung. Ein Satz wie ein Thema. Ein Roman über fast hundert Jahre bis in die Gegenwart, verankert in vier Zeiten, in Momenten, Zwischenzeiten, ausgeleuchtet ein paar Seiten lang, um den Faden viel später wieder aufzunehmen, in ganz anderem Licht. Iris Wolff konzentriert Geschichte genauso wie Sprache. Sie schreibt so, wie Erinnerung geschieht, in Bildern, das eine ausleuchtend, das andere im Dunkeln lassend.
So wie ich mir bei manchen Büchern gewünscht hätte, man hätte sich auf das Wesentliche konzentriert, weniger wäre mehr gewesen, eine Stimme hätte zu Mässigung gemahnt, so gross war das Bedauern darüber, dass das Lesevergnügen nach 163 Seiten schon zu Ende war. Ich hätte der stillen Stimme der Autorin noch lange zugehört und bin mir sicher, dass da etwas Grosses zu wachsen begonnen hat!
Ein junger österreichischer Soldat wird zusammen mit einem Offizier von der winterlichen Front weg in ein Karpatendorf abkommandiert. Weg von der eisigen Kälte, weg vom Tod und der dauernden Angst, hinein in ein Dorf, in eine Familie. Weg vom Grabenkrieg im weiten, waldigen Gebirge in eine warme Stube, ein weiches Bett, an einen reich gedeckten Tisch. Jacob, der Soldat, freundet sich mit der jüngsten Tochter an, erzählt ihr Geschichten, zuletzt auch jene seines Bruders, der weit weg seine Schuhe am Rand einer tiefen Schlucht auszog. Eine Geschichte später, Jahre dazwischen, treffen sich der Grossvater Elemér und seine Enkelin Henriette im Garten, beide schlaflos, von Unruhe gepackt in der «Gesellschaft der Schlaflosen». Eine Familie droht durch die Geschichte zerrissen zu werden und Herniette weiss, dass sie nicht ist, wie die anderen, nicht einmal wie ihre Schwestern. Noch einmal Jahre später, als der Mond durch Amstrong in Besitz genommen wird, Vicco an der Distanz zu seiner Mutter Henriette zu zerbrechen droht, Liane kennenlernt und mit ihr bis zum Schwarzen Meer im Trabi fährt. Und noch einmal Jahre später, Henriette ist als Grossmutter und ganz besondere Frau bloss noch Erinnerung, die junge Hedda auf einer Insel im Meer erfährt, dass ihr Vater Vicco an Krebs erkrankt ist. Hedda beobachtet ein Paar, das in einen Fischerkahn steigt. Ein Boot, das nie zurückkehrt. So wie die Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.
Man möchte es laut hinausrufen; Hier glänzt Sprache auf, hier schreibt und erzählt jemand in einer Sprache, die poetisch funkelt. Hier ist ein Buch, das man nicht versäumen darf, das man nach der Lektüre für eine Weile an die Brust drückt, weil man es nicht loslassen will. Unbedingt lesen!
Iris Wolff liest aus ihrem Roman am 12. Januar im Bodman-Haus in Gottlieben TG, um 20 Uhr.
Moderiert wird die Lesung von Julia Knapp.
Iris Wolff geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman „Halber Stein“ erhielt den Ernst-Habermann-Preis 2014.
Titelfoto: Sandra Kottonau