Ein Tag im All, eigentlich 16 Tage in 24 irdischen Stunden. Sechs Besatzungsmitglieder aus fünf Nationen, eingeschlossen in ein Kapselsystem, in einen durchgetakteten Alltag, der aber doch nie ganz losgelöst ist von der Mutter Erde. Samantha Harveys Roman ist ein Meisterwerk menschlicher Extreme.
In 400 Kilometern Höhe kreist die ISS im 90-Minuten-Takt seit bald 10000 Tagen um die Erde. Bis 2020 wurde die Raumstation immer und immer wieder erweitert, trotzdem ist ihre Existenz endlich. Irgendwann in den kommenden Jahren wird man das mittlerweile auf über 100 Meter grosse Gebilde aus verschiedensten Modulen und Solarsegeln kontrolliert zum Absturz bringen. Fast alles wird in der Atmosphäre verglühen, alles, was Astronauten und Kosmonauten nicht zur Erde zurückbringen.
An der Hand der britischen Schriftstellerin und Dichterin Samantha Harvey begleite ich sechs Besatzungsmitglieder einen Tag lang auf ihrer Reise durch den Orbit. „Umlaufbahnen“ ist weder Science-fiction noch Weltraumthriller. Dieses Buch, das zwischen fast beschaulichen Innen- und Aussenwelten, der Sicht auf die Erde, jene durch wachsende Demut auf das eigene Sein, den lyrisch anmutenden Beschreibungen und den essayistischen Passagen mäandert, ist ein erstaunlich poetischer Blick auf die menschliche Existenz und was diese aus dem zarten Gleichgewicht auf der schmalen Schicht irdischen Lebens anrichtet. Samantha Harvey Beschreibungen sind behutsam, zärtlich, getragen von grossem Respekt und unzähmbarer Freude an der Sprache. Was der Schriftstellerin in diesem Buch gelingt, macht sie zur erzählenden Dichterin, die es nicht nötig hat, mich mit Spannungsbogen, Plot oder gekünstelter Dramaturgie zu ködern. „Umlaufbahnen“ ist so unspektakulär wie das Leben, dieser eine Tag zweier Frauen und vier Männer.

Diese sechs Menschen sind nichts anderes, als sechs fremdgesteuerte „Versuchskaninchen“, die mittels Selbstversuchen und Messdaten am eigenen Organismus, mit Versuchen an mitgebrachten Pflanzen und Tieren, technischen Versuchsreihen und Beobachtungen, nicht zuletzt der meteorologischen, gefangen sind in einem Hamsterrad. Von früh bis spät durchorganisiert in einem Erdentag, der auf der ISS 16 Sonnenauf- und Untergänge lang dauert.
Zwei russische Kosmonauten, ein Italiener, ein Amerikaner, eine Japanerin und eine Engländerin in einem Kapselgeflecht weit weg von Mutter Erde. Ein Begriff, der in der sonst so lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls seine ganz eigene Bedeutung bekommt. Spiegelbild der Mäusekolonien, die man auf der Station zu Versuchs- und Beobachtungszwecken mitführt. Sechs Individuen, die alle mit minimal persönlichem Equipment zurückgeworfen sind auf das, was sie mit sich tragen: Erinnerungen, Sehnsucht nach den Nächsten, der Trauer um den Tod der Mutter, die Sorge um all das, was der von der Station aus wunderschöne Riesentornado auf der Erde anrichten wird.
Was sich in der Raumstation, eingebunden in tagtägliche Routine abspielt, ist trotz Russen und Amerikaner, gelebte Kooperation. In diesem eng begrenzten Raum gibt es innerhalb der Titanhülle keine Grenzen. Auch dann nicht, wenn Bodenstationen erklären, dass die russische Toilette nur von russischen Kosmonauten und die amerikanische nur von der restlichen Besatzung aufgesucht werden darf. Dort oben ist man Mensch. Aber selbst der Blick auf das Erdenrund lässt ausser jener zwischen Wasser und Land keine Grenzen erkennen. Während auf dem Planeten für Grenzen getötet und gestorben wird, atmen die sechs Besatzungsmitglieder alle die selbe immer und immer wieder aufbereitete Luft und trinken den zu Wasser aufbereiteten Urin aller Besatzungmitglieder.
An diesem Ort, an dem Beziehungen der Sache dienen müssen, alles einem Zweck unterworfen ist, nichts an die Natur erinnert und man für Monate freiwillig gefangen ist in einem Kokon aus Technik, Kunststoff und Metall, in einer Station, deren älteste Modulteile bereits Risse aufweisen, wird die Sehnsucht nach Kleinigkeiten unsäglich gross. Genauso wie die Enttäuschung darüber, dass es die Spezies Mensch nicht schafft, diesem einmaligen Geschenk des Lebens die gebührende Sorge zu tragen. Nichtigkeiten werden zu Sehnsüchten; Pflaumen, schmerzende Füsse, wütend eine Türe zuschlagen, Spiegeleier, die Notwendigkeit eines dicken Wintermantels. Dort oben zählt nur Funktion.
Was Samantha Harvey literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel, mit blosser Imagination und sorgfältiger Recherche, ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Ehrfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey schreibt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl sie nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt: Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.
Was für ein Glück für uns Leserinnen und Leser!
«Die Schönheit von sechzehn Sonnenaufgängen und sechzehn Sonnenuntergängen ist die treibende Kraft in diesem Roman von Samantha Harvey. Er handelt von uns allen und niemandem, während sechs Astronautinnen und Astronauten in der Internationalen Raumstation die Erde umkreisen und die Veränderungen des Wetters über vergängliche Grenzen und Zeitzonen hinweg beobachten. In ihrer lyrischen und luziden Prosa lässt Harvey unsere Welt fremd und neu erscheinen.» Edmund de Waal, Vorsitzender der Booker Prize-Jury
Samantha Harvey, 1975 geboren, ist eine britische Schriftstellerin von mehreren Romanen und einem Memoir. Ihr literarisches Werk erhielt hymnische Besprechungen und wurde für viele renommierte Preise nominiert, u.a. dem Man Booker Prize und dem Women’s Prize for Fiction. Sie lebt in Bath und unterrichtet dort Kreatives Schreiben. «Umlaufbahnen», ihr fünfter Roman, wurde für mehrere Preise nominiert und mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet.
Julia Wolf, 1980 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane erhielt sie u.a. den 3sat-Preis, den Licher Literaturpreis und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zu ihren übersetzen Autoren gehören neben Samantha Harvey auch Szilvia Molnar und Joy Williams.
Beitragsbild © Rick Hewes