«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» (13) #SchweizerBuchpreis 24/08

Lieber Gallus

Nein, «Favorita» von Michelle Steinbeck habe ich bisher nicht gelesen. Meine jetzige Lektüre ist wahrlich ein Gegenpol: «Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger, der vor zwei Jahren mit «Steine zählen» auch für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde.

«Mitten im Wind» beschäftigt sich mit den gleichen, inzwischen älter gewordenen Akteuren und spielt ebenso in Finnland. Fast alle Protagonisten blicken zurück auf Lebensabschnitte, wo sie Weichen gestellt und mehr oder wenig überlegte Entscheidungen getroffen haben. Oft folgten unerwartete Schwierigkeiten und drohendes Scheitern. In Kapiteln aus wechselnden Perspektiven erfahren wir, wie Matti mit seiner unerfreulichen Situation, da Märta ihn nach vierzig Jahren verlassen hat, umgeht. Oder wie Pekka auf der Suche nach seinem verschollenen leiblichen Vater in die einsame Gegend im Norden Finnlands aufbricht. Hendrik als Polizeibeamter wagt Beziehungen zum illegalen Pelzhandel an der Grenze zu Russland. Der verkiffte Olli erlebt unerwartet Unterstützung aus unbekannter Hand, um sein Leben zu ordnen. Nach und nach werden Zusammenhänge deutlich. Ein einrahmendes und in mehreren kurzen Einwürfen auftauchendes Auftreten einer schwarzen Katze spiegelt das Leben von Matti, seinen Umgang mit Unerwartetem, Ungerechtem und Verletzendem.

In «Mitten im Wind» bleibt vieles offen, in der Schwebe. Mich hat die melancholische, oft an die Musik von Sibelius anklingende Atmosphäre der abgeschiedenen Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands berührt, ich habe das Buch gerne gelesen und ich bin den Schicksalen von Matti, Märta, Olli, Pekka und Henrik (um die Wichtigsten zu nennen) mit Interesse gefolgt.

Insgesamt ein ruhiges, durchaus auch spannendes und lesenswertes Buch.

Hast du das Buch auch gelesen?

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

Vielleicht liest Du «Favorita» ja doch noch, auch wenn das Buch nicht bloss unterhalten will. Aber ich weiss, dass Du zu den Feinschmeckern gehörst und dass Du daran interessiert bist, beim Lesen neue Welten aufzutun. Michelle Steinbeck tut genau dies. Und zwar weit über die Themen des Buches hinaus. Schon in ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» schaffte sie es, in einem ganz eigenen Ton zu erzählen. Ein Umstand, der ihr viel Respekt schenkte, es wiederum manchen Leser*innen schwer machte, einen Zugang zu ihrem Buch zu finden. Elke Heidenreich meinte damals im SRF-Literaturclub: Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott – ein Satz, der dem Buch mit Sicherheit nicht geschadet hat und beweist, dass sich selbst eingefleischte Literaturkritiker*innen ins Offsite manövrieren können. Im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung zu ihrem Lyrikband «Eingesperrte Vögel singen mehr» schrieb mir Michelle Steinbeck: Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Diese Maxime scheint der Autorin auch in ihrem Roman «Favorita» wichtig gewesen zu sein. Literatur, die nur schmeichelt und in einen leicht entrückten Zustand versetzt, interessiert die Autorin nicht.

«Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger ist eines der Bücher, das ich nicht zu Ende las, das ich weglegte. Wenn ich das schreibe, bedeutet das nicht, dass das Buch kein gutes gewesen war. Die Gründe, warum ich ein Buch weglege, sind subjektiv. Ich weiss aus Erfahrung, dass Bücher bei mir manchmal einfach nicht den richtigen Zeitpunkt erwischen. «Favorita» von Michelle Steinbeck ist das beste Beispiel dafür. Erst beim zweiten Versuch waren meine Geschmacksnerven dafür offen. Erst beim zweiten Mal stiess das Buch auf die Resonanz, die es erzeugen will. Das Buch vor «Mitten im Wind» fand ich äusserst beeindruckend. «Steine zählen» war eine Offenbarung, nicht zuletzt, weil da ein Schweizer fast skandinavisch erzählt. Vielleicht hatte meine Leseblockade auch damit zu tun, dass ich Büchern, die Geschichten einfach wieder aufnehmen, die nach Fortsetzung riechen, nicht traue, auch wenn es Schriftsteller*innen gibt, die ihrem Personal ein Leben lang treu bleiben. Wenn Du schreibst, das Buch hätte dich an die Musik von Sibelius, an die Atmosphäre abgeschiedener Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands erinnert, dann ist das genau das, was es braucht. Resonanzräume in der Leserin, im Leser. Und da wir alle so sehr verschieden sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass es im Empfinden der Qualitäten eines Buches keine Allgemeingültigkeiten gibt. Ich kenne Menschen, für die ist der Nobelpreisträger Jon Fosse das Mass aller Dinge. Aber ich kenne auch Menschen, die es mehrfach mit Jon Fosse versuchten – und scheiterten. Ich bin kolossal gescheitert an Robert Musils «Der Mann ohne Eigenschaften», würde aber nie und nimmer an den Qualitäten dieses Buches zweifeln.

Liebe Grüsse

Gallus

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein #SchweizerBuchpreis 24/09

Eine Geschichte aus Wirklichkeit und Traum, Wahn, Fantasie und Halluzination. Angeschrieben gegen die Realität nicht ernst genommener Femizide, erzählt in einer Sprache, die funkelt und blendet, in Bildern, die sich festsetzen und bleiben. „Favorita“ ist ein literarisches Schwergewicht.

Als hätte Michelle Steinbeck eine Weile an der Seite von Quentin Tarantino geschrieben. Fila, eine junge Frau, die bei ihrer italienischen Grossmutter in der Schweiz aufgewachsen ist, bekommt einen Anruf aus einem Spital in Neapel, dass ihre Mutter getötet worden sei. Sie solle der aufgetischten Diagnose „Schrumpfleber“ nur ja nicht trauen. Fila macht sich auf nach Italien auf der Suche nach Erklärungen, Spuren, Hinweisen über ihre Mutter. Eine Mutter, die nie für sie da war, von der sie und ihre Grossmutter nur hie und da Postkarten von immer wechselnden Grossstädten bekamen, von der die Grossmutter nur immer und immer wieder warnte, sie Fila solle nicht so werden wie die vom Weg abgekommene, gefallene Mutter.

Fila taucht in die Zwischenwelt Neapels, mit der Urne ihrer Mutter. Dort trifft sie im Milieu auf Frauen, die ihre Mutter nicht nur kennen, sondern in ihrem Dienst standen, die Fila ziemlich schnell klar machen, dass ihre Mutter durch die Hände ihres siebten Ehemannes starb und es nur einen Weg zur Klärung geben würde, wenn sich Fila an ihre hochhackigen Fersen kleben würde. Fila taucht in eine Welt der Abgründe. Nach einer wilden Flucht und einem Inferno in einer besetzten, ehemaligen Salamifabrik wird Fila im Auto eines fremden Mannes in ein abgelegenes Dorf gefahren, in ein grosses Haus, in eine Villa, in der sie sich verstecken soll.

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

In jenem Dorf erfährt Fila vom Schicksal einer jungen Frau, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Wald bei eben diesem Dorf ermordet wurde. Ein kleines, unscheinbares Mahnmal erinnert an den grausamen Tod und an die Tatsache, dass nie abschliessend ermittelt werden konnte, wer der hübschen jungen Frau unmittelbar vor ihrer Hochzeit die Kehle durchgeschnitten hatte. Fila beginnt in den Archiven zu forschen und erfährt von einem Prozess gegen den Verlobten der damals Getöteten, der wohl verurteilt, aber nicht einmal zwei Jahre nach dem Urteil bei Wiederaufnahme des Prozesses aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Nicht nur weil die Beweise gegen ihn nicht hieb- und stichfest gewesen wären, sondern weil der Druck der Öffentlichkeit, die nicht haben wollte, dass so ein «armer» Mann im Gefängnis schmort, weil seine Verlobte die Finger nicht von anderen Männern lassen konnte, immer grösser wurde.

Für Fila wird das Schicksal jener jungen Frau untrennbar verwoben mit dem Schicksal ihrer Mutter, denn es wird immer deutlicher, dass ein Mann, der letzte Mann ihrer Mutter, die Ursache für den Tod ihrer Mutter war und man alles daran setzte, diesen Mord zu vertuschen. Fila lässt nicht locker, erst recht nicht, als sich „ihr Vater“, jener Mann im Gefolge eines ganzen Trosses neofaschistischer Gesinnungsgenossen zu einem geheimen Treffen in jener Villa ankündigt, in die man Fila versteckt hatte. Fila wird zum Racheengel. Was sich über 450 Seiten zuspitzt, wird in den letzten Seiten zu einem Finale, an dem auch Tarantino seine Freude hätte.

Das ist die Geschichte, eine Geschichte, für die es aber nicht unbedingt 450 Seiten gebraucht hätte. Da ist auch das mit eingeschriebener Wut gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nicht ernst nimmt, die die Schuld fast reflexartig in den Opfern selbst sieht und Täter nie wirklich zur Rechenschaft zieht. Aber dafür hätte es auch nicht 450 Seiten gebraucht. Was mich diesen Roman über 450 Seiten mit Hochgenuss lesen lässt, und das ist als Mann nicht ganz einfach, ist die Sprache, dieses Mäandern zwischen den verschiedensten Ebenen der Wahrnehmung. Da sprechen Geister, da driftet das Geschehen ins Fantastische ab, da schillern Spiegelungen. Man spürt neben der Wut die Lust. Es knallen die Farben ebenso wie die Dichte überzeugt. Michelle Steinbeck will weder gefallen noch unterhalten. Sie malt ein Sittenbild der Gegenwart, auf das man sich einlassen muss – und für das es sich mehrfach lohnt, 450 Seiten zu lesen!

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016; 2018 folgte der Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr«. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Illustrationen © leale.ch