Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.
Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.
Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.
im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht
Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.
liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht
Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).
Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.
In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.
Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!
Sprachsalz ins Leben!
Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.
Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh.
Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz