Was aus einer Begegnung werden kann, beweist der Gedichtband „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“. Hussein Bin Hamza, syrischer Dichter und eine der bedeutendsten poetischen Stimmen seines Landes, traf an den Heidelberger Literaturtagen 2018 auf die Autorin, Veranstalterin und heutige Verlegerin Monika Lustig. Der Beweis dafür, dass Literaturtage und -festivals nicht einfach Ansammlungen von Veranstaltungen sind, sondern Orte schöpferischer Begegnungen, weit über Kulturen hinaus.
Hussein Bin Hamza lebt derzeit in Hannover im Exil, weit weg von seiner Heimat, in der Krieg, systematische Verfolgung und Terror noch immer Alltag sind. Auch wenn das Land, der Despot, Vertriebene und Gebliebene aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerutscht sind. Es sind Hunderttausende geflohen. Viele von ihnen mit Schlauchbooten übers Meer. Tausende von ihnen haben ihre Flucht mit dem Leben bezahlt. Alle bezahlen sie mit unauslöschlichen Erinnerungen, mit Gefühlen der Einsamkeit und der Sehnsucht nach einer Heimat, die in Trümmern liegt.
Im Gedicht Grenzöffnung beschreibt Hussein Bin Hamza genau das, und doch ganz anders als ich es erwartet hätte.
Grenzöffnung
Wären wir doch bloss im Asyl unserer Träume geblieben
Hätten uns vorgetastet, mit verbundenen Augen
als jagten wir verstreuten Sternen nach
klopften an unsichtbare Türen
Wären wir bloss in fernen Wäldern durch den Schlamm gerobbt
samt unserem Gepäck, randvoll mit Kleidung und Erinnerung
Hätten wir bloss nicht unsere Vergangenheit ins Meer geworfen
um die Schlepperboote zu erleichtern
Wären wir doch dichtgedrängt wie Sardinen in der Büchse
in Turnhallen und Klassenzimmern geblieben
die in den Sommerferien als Unterkünfte dienten
Hätten die Zeitungen und Nachrichtensendungen bloss keine Fotos von uns verbreitet
fiel doch ohnehin keinem auf, dass die Ertrunkenen
gar nicht mit auf dem Bild waren
Wären wir doch nie gezwungen gewesen, neue Sprachen in den Mund zu nehmen
die schmeckten wie Gerichte, die wir als Kinder nicht mochten
Hätten wir doch bloss nicht alles hinter uns gelassen
nur um eine neue Einsamkeit zu erdulden
Wären wir doch Flüchtlinge im eigenen Land
und nicht dort und nicht hier geblieben
hätten wir weiterhin den verstreuten Sternen nachgejagt, wie Blinde
und an unsichtbare Türen geklopft
Hätten die bleiernen Erinnerungen uns doch in die Tiefe gezogen
noch bevor wir das Ufer erreichten
Wären wir doch bloss hängengeblieben
zwischen dem, was wir zurückliessen
und jenen neuen Träumen, die wir unbeholfen verfolgten
Hätten sie doch nie die Grenzen für uns geöffnet!
ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود
ليتنا بقينا لاجئين داخل أحلامنا القديمة
نتقدّم بعيونٍ معصوبة
كما لو أننا نطاردُ نجوماً منثورة أمامنا
أو كأننا نطرق أبواباً غير مرئية
ليتنا لم نلوّث ثيابنا بوحل الغابات الأجنبية
ليتنا لم نجرجر حقائبنا المتورّمة بالثياب والذكريات
ليتنا لم نرْمِ ماضينا في البحر كي تخفّ حمولتنا في قوارب المُهرّبين
ليتنا بقينا مكدّسين كأسماك السردين
في المعسكرات وصالات الرياضة ومدارس الصيف الفارغة
ليت الصحف ونشرات الأخبار لم تنشر صورنا
التي لن ينتبه أحد أنها لا تضمُ من غرقوا منا
ليتنا لم نُجبر على مضغ لغاتٍ جديدة طعمُها يشبه الطبخات التي كرهناها في طفولاتنا
ليتنا لم نترك كل شيء خلفنا
واستدرنا لنواجه
معاً وعلى حِدة
عزلاتنا الجديدة والشاقة
ليتنا بقينا لاجئين لدى أنفسنا
ليتنا بقينا لا هنا ولا هناك
نطارد كالعميان نجوماً منثورة أمامنا
أو نطرق أبواباً غير مرئية
ليت ذكرياتنا الثقيلة أغرقتنا قبل أن نصل إلى الشواطئ
ليتنا بقينا عالقين
بين ما تركناه
وما ركضنا خلفه كالعدّائين الهُواة
ليتهم لم يفتحوا لنا الحدود.
Was sich in seinen Wiederholungen wie ein flehentliches Gebet liest, ist die Zusammenfassung all jenen Schreckens, durch das Elend von Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit nie zu tilgen ist. Hätten und Wären werden zu Peitschenhieben auf die eigene Haut und zeigen die Lähmung, nachdem man sich in existenzieller Bedrohung zwischen zwei Übeln entscheiden musste, im Wissen darum, dass man den anderen Weg immer als Vorwurf seiner selbst hören wird. Hussein Bin Hamzas Gedicht ist schonungslos, wütend und doch nur eine Anklage gegen sich selbst, das eigene Dilemma. Kein Rundumschlag, keine Anklage gegen die Welt, die zuschaut. Aber Hussein Bin Hamza nimmt mich mit, nimmt mich ganz nah an seinen Schmerz. Einen Schmerz, der mir unmöglich gleichgültig sein kann. Einen Schmerz, der sich durch seine Gedichte auffächern muss, damit er zurück in die Köpfe und Herzen der Verschonten kommt.
Ein anderes, immer wiederkehrendes Thema in den Gedichten ist die Einsamkeit. Das Getrenntsein von Heimat und nicht zuletzt von sich selbst.
Einsamkeit
Jeden Tag gehe ich
von zu Hause zur Arbeit
von der Arbeit wieder nach Hause
Ich bin ein alter Bus
der durch die grosse Stadt kurvt
doch Fahrgäste sitzen keine darin
nur meine Einsamkeit fährt er spazieren
vertreibt sich die Zeit mit ihr
von Haltestelle zu Haltestelle.
وحدة
كلّ يوم
من البيت إلى العمل
ومن العمل إلى البيت
أنا حافلةُ نقلٍ هرمة
في هذه المدينة الكبيرة
ولكنها خالية من الركاب
إنها فقط
تُنزّهُ وحدتي
وتلهو بها بين مكانينْ.
Einsamkeit ist zum dauernden Begleiter geworden. Eine Einsamkeit, die sich wie eine fremde Haut anfühlt, die einem distanziert von dem, was geblieben ist. Die Lakonie, mit der Hussein Bin Hamza darüber schreibt, offenbart die Tiefe der Zerrissenheit. Der Schalk darin die Weisheit des Dichters, sich von diesen Gefühlen nicht auffressen zu lassen. Hussein Bin Hamza lädt nicht ab, er zeigt mir Unabänderliches, dem er sich stellt, von dem er sich nicht schlucken lässt.
Ein anderes Themenfeld in „Ich spreche von Blau, nicht vom Meer“ sind die Gedichte über das Schreiben selbst.
Verlorene Gedichte
Viele Gedichte habe ich geschrieben
Auf die Rückseite von Strom- und Telefonrechnungen
auf Bank- und Schulgeldquittungen
auf Papierschnipsel, die mir in den Hosentaschen zerkrümelten
auf Tischkanten und auf Stühle
auf die freien Ränder von Zeitungen und Büchern
Auf Theater- und Kinokarten
Viele Gedichte habe ich geschrieben
Und sie hätten mich zu einem grossen Dichter gemacht
Wären sie nicht alle verlorengegangen
Alle ausser diesem hier.
قصائد ضائعة
كتبتُ قصائدَ كثيرة
على قفا فواتير الهاتف والكهرباء
على إيصالات البنك والأقساط المدرسية
على قصاصاتٍ احتفظتُ بها وتهرَّأت في جيوبي
على أطراف الطاولات والكراسي
على الهوامش الشاغرة في صفحات الجرائد والكتب
على تذاكر المسرح والسينما
كتبتُ قصائد كثيرة ربما كانت ستجعلُ مني شاعراً عظيماً
ولكنّي أضعتُها
هذه القصيدة
نَجَتْ.
Hussein Bin Hamza musste neu beginnen, vieles, fast alles zurücklassen. Hussein Bin Hamza hat eine lange Spur hinter sich gelassen, eine Spur, die sich verloren hat. Hussein Bin Hamza schreibt immer und von sich selbst, dass er in ein Haus geboren worden sei, „in dem das geschriebene Wort grösste Wertschätzung, fast heilige Verehrung erfuhr“. Aufgewachsen in einer Welt, in der das Buch schon immer ein Fluchtpunkt gewesen war und nun, nach der Flucht nach Deutschland der Beginn einer „neuen“ Existenz auf den Trümmern des Verlorenen.
Ich wünsche dem Dichter viele neue LeserInnen und Leser, denen er wie mir die Tür zu einer andern Welt öffnete. Einer Welt, die mitten unter uns Verschonten existiert.
Und ich wünsche dies auch der neu gegründeten Edition Converso, die sich mit ihrem Bestreben, den Kulturen rund ums Mittelmeer über die Nationen hinaus Gehör zu verschaffen und sich dabei viel vorgenommen hat.
(Die arabischen Gedichte sind auch im Buch den deutschen Übersetzungen von Günther Orth gegenübergestellt. Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung, diese veröffentlichen zu dürfen.)
Übersetzung des Gedichts im Titel:
Vergangenheit
Unsere schwere Vergangenheit
zieht uns unter Wasser, noch bevor wir die Küste erreicht haben
Wir Syrer.
Hussein Bin Hamza wurde in einer kurdischen Familie im syrischen Al-Hasaka geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten poetischen Stimmen seiner Generation in der arabischen Welt. An der Aleppo University studierte er Wirtschaft. 1995 zog er nach Beirut und arbeitete als Redakteur und Kritiker für führende libanesische Zeitungen und veröffentlichte kritische Artikel über Lyrik, Prosa, Theater und Kunst. Er leitete den Verlag des Instituts für irakische Studien.
Günther Orth geboren 1963 in Ansbach, studierte Islamwissenschaft, Geografie und Soziologie in Erlangen. Er promovierte zur modernen Literatur des Jemen und war Dozent für Übersetzung und Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Universitäten. Er übersetzt Literatur aus dem Arabischen ins Deutsche und arbeitet als Konferenzdolmetscher. Orth lebt als Dozent, Dolmetscher und Übersetzer für Arabisch in Berlin.