Schreibwerk Ost «Schreiblexikon, das», Michèle Minelli & Peter Höner

Schreiben ist keine Glücksache. Schreiben muss mit Sicherheit Talent sein, vorallem dann, wenn das Geschriebene verkauft und gelesen werden soll. So schiessen Schreibstuben wie Pilze aus dem Boden. Solche, die in blumigen Versprechen den Erfolg versprechen. Als wäre ein Buch zu schreiben nur eine Frage der richtigen Einstellung und dem entsprechenden Support.

«Schreibwerk Ost» nennt sich, was sich hoch über der Thur auf dem Iselisberg zusammen mit den Schriftstellern Michèle Minelli und Peter Höner formierte. Ein Schriftstellerpaar, das nicht bloss einfach sehnsüchtig Schreibende zu SchriftstellerInnen machen will, sondern das Schreiben institutionalisieren. Zwei Engagierte, die keine falschen Versprechungen machen! Entstanden ist dabei nicht nur eine Startrampe für das eigene Schreiben, sondern ein Buch über das Schreiben. 680 Begriffe sollen zeigen, wie das Autorenleben wirklich ist. «Das Schreibuniversum von A bis Z. Schlicht alles, was es braucht, um glücklich zu sein.»

Buchdeckel, der: Der Name ->Name B. ist eine Aufforderung zur Rebellion. Dieser Deckel will geöffnet werden. Peter Höner

Schreiben ist Privatsache. Aber einmal geschriebene Texte grösstenteils nicht mehr, ausser sie sind unter Verschluss. Texteaber sind der Öffentlichkeit ausgesetzt. Schreibwerk-Ost zeigte, wie Texte entstehen, worauf sie gründen, was sie wollen. 20 Frauen und ein Mann stellten zum einen eigene Texte aus ihrem eigenen Schaffen vor, Texte, die an diesem Sonntag direkt entstanden und das Buch «Schreiblexikon, das», das von Michèle Minelli und Peter Höner herausgegeben wurde. «Autorinnen und Autoren sagen, wie es wirklich ist.» – Ein Standartwerk mit Prädikat «unverzichtbar»!

Buchstaben (Pl.): Wenn man bedenkt, dass fast alles Geschriebene aus B. besteht, dann stellt man fest, dass B. schon seit langer Zeit domestizierte Begleiter des Menschen sind. Wölfe hat man auch domestiziert, damit sie zu Hunden werden. B. -gruppen, die zu wild sind, werden umgeformt. Man mag sie treu und loyal. Hunde werden im Alter oder wegen schlechter Behandlung launisch, bösartig, bissig. Also Vorsicht beim Domestizieren. Francine Vonderhagen

Seit vielen Jahren unterrichten Michèle Minelli und Peter Höner «Literarisches Schreiben» auf dem Iselisberg, hoch über der Thur. Michèle Minelli, zuletzt mit dem Roman «Die Verlorene» aufgefallen und Peter Höner von dem im kommenden Herbst beim Limmat Verlag ein neuer Krimi erscheinen wird. Zusammen mit den beiden Initianten, Organisatoren, Beflügler zeigten mehr als zwei Dutzend Autorinnen und Autoren unter dem Dach des Bodman-Literaturhauses in Gottlieben wie lebendig, witzig, mitreissend, spontan und ernsthaft Literatur sein kann und muss. Wie wertvoll in einem kleinen Kanton am Rande der Schweiz, dem sonst schnell Literarische Provinzialität angelastet werden kann, gäbe es dieses Literaturhaus nicht. Michèle Minelli und Peter Höner zeigten im Kollektiv, was Schreiben bedeuten kann; ganz eigene Perspektiven, genaue Recherche, tiefes Rollenbewusstsein, im Spannungsfeld zwischenDistanz und Nähe.

Dichten, das: Beim D. trete ich mit meinen Worten ganz bewusst in meine eigenen Fussabdrücke im Schnee der Vorstellungskraft – wo auch immer diese Spur mich hinführt, dort begegne ich mir selbst. Sarah Elena Neukom

Für einmal war bei einer literarischen Veranstaltung nicht der bereits gedruckte Text, das Buch im Vordergrund, sondern die Kunst des Ausdrucks, unmittelbar mit eben entstandenen Texten, eine Performance der Extraklasse. Texte über das Beben, Texte, die zum Beben brachten, Texte voller Leidenschaft, die sich unters Publikum mischten. Mit Sicherheit nicht untypisch, dass sich unter all den Autorinnen nur ein einziger Autor traute, seine Texte vorzutragen. War beim Battle noch die Genderproblematik im Vordergrund, hätte die wirkliche Frage lauten sollen, ob und warum Literatur immer mehr zur Frauensache wird. Wer liest, ist meist weiblich. Wer unterbezahlt in vielen kleinen Verlagen die grosse Arbeit verrichtet, ist mehrheitlich weiblich. Nur Preise werden gern von Männern abgeräumt, die sich dann gerne von ihren männlichen Verlagsbossen umarmen lassen. Und noch eine Frage: Warum fehlt es am Selbstvertrauen, das Schreibende ihre Texte nicht häufiger aus dem geschützen Rahmen treten lassen? Warum liest niemand laut in Wartezonen von Flughäfen? Warum ist es bloss Franz Hohler, der an einem Stand seine Prosa zum besten gibt, nur Adolf Muschg, der sich einsam traut, sich in TV-Politsendungen in Nesseln zu setzen, nur Pedro Lenz, der mit seinen Texten eine ganze Klosterkirche füllt? Wo sind die Frauen?

Musenkuss, der: Ein Kuss, den man nicht erzwingen kann. Die ->Muse ist eine ->Diva, die nur küsst, wen sie möchte, wenn es am wenigsten erwartet wird. Ein heftiger M. zwingt den ->Autor dazu, sofort alles stehen und liegen zu lassen und sich der ->Muse hinzugeben. Wogegen ein leichter, kaum spürbarer M. dem ->Text dabei hilft, vorwärts zu fliessen. Monica Heinz

Die Veranstaltung «Schreibwerken 2017» wollte keine Antworten geben. Dafür präsentierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, arrivierte neben Neulingen ihre Texte, liessen sich über die Schulter gucken, offenbarten, wie sie handwerklich vorgingen, wie sie Spannung erzeugen, Reize im Publikum wachkitzeln, kurz: wie sie schreiben.

Mitwirkende Autorinnen und Autoren: Jürg Ackert, Jeanette Bergner, Sandra Böni, Margrit Brunner, Milena Caderas, Carolina Caroli, Doris Condrau, Heidi Dällenbach, Barbara Fischer, Maja Gruss, Brigitte Guggisberg, Monica Heinz, Marie-Luise Hermann, Chantal Kämpfen, Stephanie Kohler, Ruth Loosli, Gabriele Meseth, Ruth Müller, Sarah Elena Neukom, Gisela Recke, Lea Reichmuth, Manuela Rüeger, Nicole Sauerländer, Bettina Scheiflinger, Eva Waiblinger und Christine Zureich.

Das Buch «Schreiblexikon, das» ist in jeder guten Buchhandlung zu bestellen. Direkt auch unter der Homepage von Michèle Minelli oder mit der ISBN 978-3-033-06042-5.

Webseite Schreibwerk Ost

literaturblatt.ch fragt, Teil 7, Michèle Minelli antwortet.

Hoch über dem Thurtal mit weitem Blick auf die Alpenkette leben die Schriftsteller Michèle Minelli und Peter Höner in einem alten Bauernhaus, dass sie nicht nur für sich als Wohn- und Arbeitshaus benutzen, sondern dieses mit einem Coachingangebot für Schreibende zu einem Schreibhaus werden lassen. Michèle Minelli war bereits einmal Gast in Amriswil zu einer Hauslesung aus ihrem neusten Roman «Die Verlorene».

Peter Höner und Michèle Minelli
Peter Höner und Michèle Minelli

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Mich treibt die Dringlichkeit der Geschichte. Aber wenn ich genauer hinschaue, ist da in jeder Geschichte die Geschichte eines Bruchs, und wenn ich den Bruch anschaue, dann sehe ich, dass es das ist, was ich erzählen will. Wie Menschen mit Brüchen umgehen. Mag sein, dass eine Tiefenpsychologin darin etwas Spannendes sieht, über das sie schreiben würde mit der ihr eigenen Dringlichkeit. Mir reicht es, die Geschichte, angetrieben durch den Bruch, schreibend zu erfahren und erfahrbar zu machen.

Die authentische Geschichte der Frieda Keller. Ein Justizskandal. Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …
Die authentische Geschichte der Frieda Keller.
Ein Justizskandal:
Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Für mich ist der schönste Moment, wenn ich die Schlussszene in einem Manuskript schreibe. Ich spare sie mir auf. Ich spare mir diesen Moment auf und will ihn mit viel Zeit geniessen. Den Schluss sehe ich wie auf einer Leinwand vor mir, auf den Schluss schreibe ich zu, und wenn er dann vor mir steht, ist da immer auch ein Moment voll Ehrfurcht, Atemlosigkeit.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ja, ich höre Musik. Jedes Buch, das ich geschrieben habe, jede Geschichte, hat ein besonderes Lied. Ich lasse mir jeweils Zeit, es zu finden, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Und wenn ich es habe, höre ich es in Endlosschlaufe im Hintergrund. Sobald ich also in mein Schreibzimmer gehe, mich hinsetze, den Tee neben mir, und diese Musik einschalte, weiss mein Gehirn: Aha, es geht wieder los! Und dann geht es los.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, ich denke klarer, wenn ich schreibe. Scharf genug?

Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG
Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn damit der Ort in meinem Inneren gemeint ist, an dem ich an mein entstehendes Werk glaube und nicht zweifle, dann ist dieser Ort tatsächlich keine Festhalle. Und doch gibt es Menschen, mit denen ich mich über das Schreiben austauschen kann, die an diesem Ort zugelassen sind, auch wenn die Dinge noch im Prozess sind; das sind dann eben gute Freunde, die wissen, wie man sich an einem solchen Ort benimmt. Das sind, wie ich: Schreibende, die das Schreiben als eine Mischung aus Zauber und Arbeit verstehen und genau wissen, dass Schreiben Bewegung ist, Prozess.
Das wäre eine erste Antwort.
Eine zweite lautet: Ja, diese Einsamkeit gibt es, es ist aber viel mehr ein Alleinsein mit sich und dem Text, denn eine Einsamkeit. Da ist keine Trauer, da ist nur Konzentration.

Zähl bitte drei Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Geprägt haben mich in meiner Jugend die Bücher von Jakob Wassermann («Christian Wahnschaffe» oder «Caspar Hauser» oder die Trilogie «Der Fall Mauritzius», «Etzel Andergast» und «Joseph Kerkovens dritte Existenz»; Joyce Carol Oates (einfach alles, was ich auf Deutsch oder Englisch in die Hände bekam)) und Philippe Djian mit seiner „Betty Blue“. Hin und wieder blättere ich in diesen Büchern auch heute noch und entdecke darin die Michèle von 15, von 17, von 20 Jahren.

headerMichèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, ist dort Dozentin für kreatives Schreiben. Sie hat Dokumentarfilme gedreht, Sachbücher, eine Reisereportage und einen Roman veröffentlicht, bevor 2012 ihre grandiose Familiensaga «Die Ruhelosen» erschien. 2013 folgte der Kriminalroman «Wassergrab» Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien. Ihr neuer Roman «Die Verlorene» (2015) erzählt die authentische Geschichte der Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen in einem aufsehenerregenden Justizskandal verurteilt wurde. Ebenfalls im Jahr 2015 veröffentlichte Michèle Minelli zusammen mit der Fotografin Anne Bürgisser beim Verlag Hier und Jetzt den Foto- und Textband «Kleine Freiheit» zu den Jenischen in der Schweiz.

Homepage von Michèle Minelli