„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.
Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.
«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»
Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.
Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.
«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»
Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.
«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»
Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.
Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.
Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.
Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard