Ein von Resignation und Abgeklärtheit durchsetzter Mann fortgeschrittenen Alters lässt die Welt im Zug an sich vorbeiziehen. Alles, was er sieht, hört und fühlt, bestärkt ihn im Gefühl, mit den Irrungen und Wirkungen der Welt abgeschlossen zu haben. Er sitzt im Abteil, einer, der alles hinter sich hat. Bis ihm der Zufall in eben diesem Abteil ein schlafendes Mädchen in den Schoss legt, ein Mädchen ohne Geld, ohne Papiere, ohne Geschichte. Jara.
Er wacht langsam auf, merkt, dass jemand neben ihm seinen Kopf an seine Schulter lehnt und schläft. Ausgerechnet im Zug, jenem Ort, an dem man gezwungen ist, Nähe zuzulassen. Ausgerechnet bei ihm, der die Welt wenn möglich auf Distanz hält. Und während er selbst in seinen Träumen der Permapenetration entgegenzuhalten versucht, rutscht der Kopf einer jungen, unbekannten Frau langsam immer tiefer in sein Leben. Das Mädchen wacht auf, als der Schaffner nach den Fahrscheinen fragt und bleibt, als der Mann für das Mädchen zahlt, bleibt, als er aussteigt, bleibt, als er dem Mädchen die Tür zu seiner Wohnung öffnet.
Ein Mädchen, von dem nicht einmal der Name stimmt, das ihm keine Fragen beantwortet, sich gleichermassen distanziert wie in vollkommener Selbstverständlichkeit den Platz einer Tochter einnimmt. Ein Mädchen ohne Geschichte, scheinbar ohne Familie, mit einer Sprache, die, wenn das Mobilphone klingelt und eine unbekannte Welt sie in einer fremden Sprache sprechen lässt, das Mädchen nicht einordnen lässt. Jara bleibt, auch als sich die Maschinerie des Sozialstaates einschaltet und er sich erklären muss, warum ein alter Mann mit einer fremden, jungen Frau unter einem Dach in der selben Wohnung lebt. Jara zeichnet, hockt am Boden in ihrem Zimmer, füllt unzählige Blätter mit Bleistiftzeichnungen, ordnet, trennt und fügt zusammen, ein ‹Atlas der verborgenen Welten›, in sich versunken, ekstatisch.
Jara ist der Gegenpol zum fertigen Leben des Erzählers. Ein Mann, der nur noch Unwesentliches hinzufügt, der mit knochentrockenem Kommentar die Welt erklärt, ernüchtert und entgeistert. Ein Mann, der von Vortrag zu Vortrag, von Veranstaltung zu Veranstaltung tingelt und Lebensrezepte verkauft, Losungen für eine zu optimierende Gesellschaft. Einer, der alles hat; Erfolg, Recht und Selbstbestätigung. Ein Leben fest in seinen Fugen verkrallt. Jara ist voller Geheimnisse, uneinnehmbar, rätselhaft. Sie ist da und nicht da, lässt sich nicht führen und schon gar nicht in eine Rolle zwängen. Aus dem Gefühl des Mannes, das an Verliebtsein erinnert, wird ebenso viel Verunsicherung. Jara bringt den alten Mann zum Grübeln. Die Wand aus Vergrämung bröckelt.
„Vorübergehende“ ist die Geschichte eines kalt gewordenen Mondes, der von der Kraft eines heissen Meteoriten erschüttert wird. Kein Märchen einer Läuterung, keine Liebesgeschichte eines in die Jahre Gekommenen. Michael Krüger spielt mit einer Rolle, mit einem Typ Mensch, dem er wahrscheinlich des öfteren im Zug gegenübersitzt. Jener Sorte Mensch, der der Erfolg ein Leben lang recht gegeben hat, die schlussendlich aber doch spurlos von der Bühne abtritt. Er verurteilt nicht, entblösst nicht, lässt den Leser rätseln, wie viel Selbst in jenem Mann steckt, von dem er erzählt.
Michael Krüger auf ein paar Fragen an ihn: «Eigentlich ging es mir darum, einen Menschen/ Mann zu zeigen, der bis an sein Ende seiner erlernten Beschäftigung nachgeht und stirbt. Diese Beschäftigung besteht darin, andere zu motivieren – das hat er gelernt, dafür wird er bezahlt. Aber Optimismus kann man nicht lernen, und also sieht er, dass er irgendwie auf die schiefe Bahn gerät, die direkt in die Melancholie führt: kein Coaching kann ihn davon abhalten. Also ergreift er die erste beste Gelegenheit und nimmt sich eines Mädchens an, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht, er nimmt sie illegalerweise bei sich auf und macht sich de jure sogar damit strafbar. Aber das ist ihm egal, weil er natürlich merkt, dass dieses Wesen von einem anderen Stern durchaus von dieser Welt ist und sein Leben ohne grosse Mühe von Grund auf verändert.»
Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München und ist zurzeit Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war viele Jahre Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der «Akzente» sowie der «Edition Akzente». Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010).
Rezension von Michael Krügers Gedichtband «Einmal einfach» (Suhrkamp) auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau