Was in der Gastronomie mit slow-food die Gegenbewegung zum fast-food sein soll, ist bei der Bewegung der Gegensatz Gehen und Fliegen. In der Musik ist es das seichte Rieseln im Hintergrund und die eindringliche Stimme eines einzelnen Instruments. Die Lyrik ist es in der Welt des Geschriebenen. Weit weg von allem Schnellen, allem beiläufig Konsumierten, der Wegwerfsprache, den Verbrauchstext, der in Zügen unter den Bänken liegen bleibt und irgendwann bloss noch als Unterlage für nasse Schuhe taugt.
Lyrik ist slow-food für hungrige Seelen, Wandern durch fremde Innenwelten, das Lauschen geheimnisvoller Stimmen. Dichter und Dichterinnen sind Streiter des Wortes, des Klanges, der Komposition und all der Leerschläge zwischen den Wörtern. Sie schmeicheln nicht, biedern sich nicht an. Wer sich nicht einlässt, bleibt draussen, ausgesperrt.
Das 14. Lyrikfestival vom 15. bis 17. September im Eisenwerk Frauenfeld bot Gelegenheit, in verschiedenen Kombinationen und Settings, sich mit den Werken der eingeladenen Künstler auseinanderzusetzen. In Portionen, die es möglich machten, die nicht zudeckten und überhäuften. Denn in kaum einer anderen Kunstrichtung ist Nähe besser und intensiver spürbar, wie bei der unmittelbar vorgetragenen Dichtung.
Zum Beispiel die 1973 in Frankfurt geborene und in Zürich wohnende Svenja Herrmann mit ihren Gedichten aus den Büchern «Ausschwärmen» und «Die Ankunft der Bäume». Svenja Herrmann schweift mit ihrem inneren Auge, überzeugt mit starken Bildern, erzählt fast ohne Abstraktion, dafür mit leisen, zarten Verschiebungen im Blick, der Wahrnehmung. Ihre Gedichte sind voller Emotionen, so stark, dass die Dichterin selbst beim Vortagen mit ihnen zu ringen hat. Es sind vielschichtige Bilder, helle und dunkle Gedichte, engagiert und stark, voll vom Schmerz über das Vergehen.
Zum Beispiel die 1959 in Split geborene Dragica Rajčić, die 1991, nach Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien, mit ihren Kindern in die Schweiz flüchtete, aber schon seit 1972 schreibt. Unter anderem Gedichte über einen fast vergessenen Krieg, von dem ich damals auf dem Sofa im Wohnzimmer mithörte, der Dichterin in der Seele ein Trümmerfeld hinterliess. Ein Friedhof von Gefühlen, Geschichten und Gesichtern, die selbst im ausgesprochenen Schmerz nicht schwächer zu werden scheinen. Ihre Gedichte sind voller Sehnsüchte nach Vergangenem und Vergessenem.
Zum Beispiel Thilo Krause, der, 1977 in Dresden geboren, 2012 den Schweizer Literaturpreis erhielt für sein Debüt «Und das ist alles genug» (poetenladen Verlag). Sein auch in seiner äusseren Form wunderbares Buch «Um Dinge ganz zu lassen» ist ein Gedichtband der Erinnerungen. Erinnerungen an die Kindheit, eine Stadt, an die Frisöse im Erdgeschoss seiner Eltern, an Friedhöfe oder an die Elbe. Geschichten in Gedichten mit vielen Leerstellen, Klangbilder in vollendeter Sprache.
Auf dem schwarzen T-shirt des ukrainischen Dichters und Schriftstellers Serhij Zhadan stand neben der Illustration eines offenen Kopfes «read the best mind of my generation»! Eine Aufforderung! Und wer die Romane und Gedichte von Serhij Zhadan liest, dessen Roman «Die Erfindung des Jazz im Donbass» von der BBC zum Buch des Jahrzehnts erkührt wurde, erahnt, wie viel Zündstoff im Engagement eines Dichters liegen kann. »Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Serhij Zhadan beschreibt, was mit ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet passiert. Lyrische Momentaufnahmen, Kürzestgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll. Serhij Zhadan las ukrainisch aus seinem aktuellen Roman «Mesopotanien», einem Roman, der zwischendurch immer wieder mit lyrische Stimme erzählt. Vorgetragen wurde der deutsche Text von der Schriftstellerkollegin Esther Kinsky.
Ein Reigen der Kostbarkeiten, angerichtet von Anna Kulp (Organisation Internationales Literaturfestival Leukerbad, Poetische Schweiz) und getragen von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau. Vielen Dank!