Aharon Appelfeld «Meine Eltern», Rowohlt

Im Gedenken an den grossen Autor Aharon Appelfeld, der am 4. Januar 2018 fast 86 jährig gestorben ist.

Sommer 1938, jüdische Sommerfrischler am Fluss Prut in Rumänien. Noch hält die Welt den Atem an. Noch kracht es nicht, kein Kanonenlärm, keine Bomben, dafür rumort es überdeutlich, bricht offener Hass hervor, während man sich unter Juden tröstet und beschwichtigt.

Aharon Appelfelds Roman, kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 erschienen, ist ein Erinnerungsbuch. Eines an seine Eltern, an einen bekümmerten, pessimistischen Vater, der am Menschen zweifelt und an eine überaus fürsorgliche Mutter, die Geschichten liebt, trotz allem stets an das Gute glaubt und dem zehnjährigen Erwin, Appelfelds Protagonisten in seinem Roman, was die Juden in der Gesellschaft nach und nach verlieren.

Aharon Appelfeld selbst war im Sommer 1938 erst sechs. Das Erwin in seinem Roman «Meine Eltern» schon zehn ist, lässt erahnen, dass der Roman weit mehr sein soll als ein Erinnerungsbuch an seine leiblichen Eltern, seine wirkliche Kindheit. Aharon Appelfeld relativiert alle Fragen nach dem «Autobiographischen». «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an eine verlorene Zeit. Jenen letzten, wenn auch nicht mehr wirklich heiteren Sommer, der den Übergang markiert von grossbürgerlicher Selbstverständlichkeit zu beinahe einem Jahrzehnt jüdischer Apokalypse.

Man sonnt sich im Sommer 38 in den Wiesen am Fluss. Man reitet mit geliehenen Pferden durch die Landschaft, sitzt abends vor dem gemieteten Sommerhaus und geniesst, was einem nur noch die Natur geben kann; «Frieden». Umgeben von Menschen, die genau spüren, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Karl König, ein Schriftsteller, der an seinen Fähigkeiten zweifelt. Eine Wahrsagerin, die aus den Händen die Zukunft liest der Missachtung verzweifelt. Pepi, die einmal mit einem Christen liiert war und in diesem besonderen Sommer auf Männerschau ist. Der Einbeinige, der sein Bein im letzten Weltkrieg verlor oder Doktor Zajger, der sich nur hier am Fluss vor seiner Arbeit retten kann.
Für sie alle bildet sich in diesem Sommer «ein Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde».

Selbst in den Stimmen der Bauern der Umgebung, die ihre Häuser und Pferde vermieten, sie mit Lebensmitteln versorgen, selbst jene des Kutschers, der sie zurück in die Stadt fährt; Hass, Misstrauen und Feindseligkeit.
Vater und Mutter Erwins repräsentieren den grossen Teil der damaligen unter Generalverdacht stehenden Juden: Der Vater längst säkularisiert, die Mutter eine stille, alles andere als demonstrative Gläubige. Und trotzdem schien auf allen jüdischen Gesichtern ein Blutmal zu wachsen, unauslöschlich.

Jener Sommer am Fluss wird zum Wende- und Brennpunkt. Während die einen der Depression verfallen, fröhnen die andern erst recht der Zerstreuung. Während bei den einen die Ahnung zur Gewissheit wird, entschuldigen und wischen andere jede schwarze Wolke weg.
«Meine Eltern» ist ein einzigartiges Buch, weil es die Momente beschreibt, in denen die Lunte brennt, sich das Höllengewitter zusammenbraut, die stinkende Suppe überkocht.

«Solange man noch Kaffee und Kuchen serviert, ist das ein Zeichen, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht.»

In Büchern wie «Auf der Lichtung» oder «Tzili» beschrieb Aharon Appelfeld seine eigene Odyssee als Junge in den ukrainischen Wäldern, stets auf der Hut vor seinen Häschern, quer durch einen Krieg, quer durch einen Kontinent. «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an einen verlorenen Frieden, an nie zurückgewonnene Geborgenheit. Ein zartes Buch über einen Moment der Weltgeschichte, der sich nicht grausamer hätte wandeln können.

Aharon Appelfeld, 1932 in Jadowa in der rumänischen Bukowina geboren und 2018 bei Tel Aviv gestorben, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und zugleich «zu den großen Erzählern Osteuropas» (Imre Kertész). Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine hochgelobten Romane und Erinnerungen wurden in fünfunddreissig Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen zuletzt «Meine Eltern», «Ein Mädchen nicht von dieser Welt» und «Auf der Lichtung». Über Aharon Appelfeld, der unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet wurde, sagte Philip Roth: «So einzigartig wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Sprache.»

Aharon Appelfeld zum Gedenken

Aharon Appelfeld starb am 3. Januar im Alter von 85 Jahren. Eine jener ganz Grossen, die trotz der Tatsache, dass die Bücher fast immer um dasselbe Thema kreisen, dennoch universelle Bedeutung und Kraft haben. Aharons Appelfelds Thema, an dem er sich abarbeitete, waren die letzten Kriegsjahre, zwei Jahre Überleben als nicht einmal Zehnjähiger in den Wäldern der Ukraine, die Flucht, die Jahre im Chaos nach einem alles zerstörenden Krieg. Ein Autor, der bleiben wird. Nicht nur in meinem Bücherregal!

Wer einsteigen will, dem empfehle ich den 2015 bei Rowohlt erschienenen Roman «Ein Mädchen nicht von dieser Welt».

Zwei verzweifelte Mütter bringen ihre beiden neunjährigen Knaben über Schleichwege aus der Stadt in den Wald, den einzigen Ort mitten im Krieg, der hoffen und leben lässt. Aber trotz Versprechen  bleiben die beiden Kinder abends allein und für unendlich lange auf sich gestellt. Nur ein Mädchen rettet sie unter Lebensgefahr bis in den Winter. Vor unsäglich dunklem Hintergrund erzählt der grosse jüdische Schriftsteller, wie glasklar die Welt in Kinderseelen sein kann, auch wenn Angst und Verzweiflung Gründe genug wären, Hoffnung und Leben verlieren zu wollen. Aharon Appelfeld, 1932 geboren, selbst als Junge in den ukrainischen Wäldern ein einsames Versteck vor den Schrecken des Krieges gefunden, schrieb eine eindringliche Geschichte über Mut, Liebe und Freundschaft. Ein trotz des Schreckens durch und durch poetisches Buch. Jedes seiner Bücher ist eine Offenbarung, eine Hymne darauf, was der Schrecken so leicht vergessen lässt.

Im November 2017 erschien bei Rowohlt sein bislang letzter Roman «Meine Eltern»: «August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden, darunter ein Schriftsteller, eine Wahrsagerin, eine früher mit einem Christen liierte Frau, die nun auf Männerschau ist. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurde er geschlagen und als «Saujude» beschimpft – und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet – und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.» (Informationen des Verlags)