Ayelet Gundar-Goshen ist eine herausragende Autorin. Nicht erst mit ihrem dritten auf Deutsch erschienen Roman „Lügnerin“, sondern auch mit ihren beiden ersten Romanen. Unvergessen bleibt „Löwen wecken“. In ihrem neuen Roman nimmt sich die israelische Autorin der Lüge an, jenem Tun, das von Stirnrunzeln bis Entsetzen alles auslösen kann, vor der sich niemand entsagen kann, die in der aktuellen Politik hüben und drüben zur Strategie geworden ist. Ausgerechnet in einer Zeit, die sich nach der Digitalen Revolution der allseits verfügbaren Wahrheit verpflichtete.
Als ich ein kleiner Junge war, erklärte man mir zwei Sorten von „Unwahrheiten“. Zum einen die Lüge, die andern schadet, zum andern das „Flunkern“ (schweizerdeutsch „Schwindeln“), mit der man anderen aber keinen Schaden zufügt. „Du sollst nicht lügen“, steht da als indiskutables, ehernes Gesetz. Und doch wissen alle, dass wir in einem fort lügen. Das ist selbst wissenschaftlich belegt. Wir fügen ganze Lebensgeschichten aus Versatzstücken zusammen, die sehr wohl in der Nähe der Wahrheit liegen. Aber es gibt keine Biographie, sei sie bedeutend oder unbedeutend, die ohne Lüge auskommt. Und darin eingeschlossen sind durchaus auch Lügen, die anderen Schaden zufügen.
Nuphar Schalev, eine junge Erwachsene, verkauft einen Sommer lang Eis. Nuphar Schalev ist nicht hässlich, aber gerade so unauffällig, dass wohl auch dieser Sommer zu Ende gehen wird, ohne dass das wirkliche Leben begonnen hätte.
„Sie wuchs zu einem zaghaften, in sich gekehrten Mädchen heran und bewegte sich in der Welt wie ein ungebetener Gast auf einem Fest.“
Ganz anders als ihre jüngere Schwester, der die Sympathien wie ein Schwarm Fruchtfliegen zuschwärmt. Nuphar hofft auf Verwandlung, dass sie irgendwann aus der starren Hülle ausschlüpfen könne, um der Welt ihre bunten Flügel zu zeigen. Dieser Tag kommt. Aber Nuphar schafft es nicht aus eigener Kraft, sich aus ihrem Nebengleis in den Vordergrund zu schieben.
Eines Tages taucht an ihrer Eisdiele Avischai Milner auf, ein fallengelassenes Showsternchen, das für einige Zeit im Rampenlicht der Nation stand, um ebenso schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Und ausgerechnet ihn lässt eine unscheinbare, sommersprossige Eisverkäuferin eine gefühlte
Ewigkeit vor der Eisdiele warten. Genügend Zeit, um beim Missachteten alle Dämme brechen zu lassen, erst recht als das Ding hinter der Eisdiele auch noch korrigiert. Es bricht aus Avischai Milner heraus, eine Kasskade verbaler Hässlichkeiten, deren Wirkungen unabsehbar werden. Ein Schrei Nuphars und alles läuft zusammen. Eine einzige Frage an das Mädchen mit den verquollenen Augen und Avischai Milner steht unter Verdacht, sich an dem Mädchen vergangen zu haben. In einem einzigen Moment richtet sich die Aufmerksamkeit einer ganzen Nation, des Kollektivs auf den Schrecken eines Mädchens, um den im gleichen Moment Verurteilten ohne ein rechtskräftiges Urteil mit Schimpf und Schande zu bestrafen.
Avischai Milners Leben gerät fast ohne sein weiteres Dazutun immer heftiger in Schieflage. Dieser eine Ausraster an der Eisdiele in der Stadt und alles, was daraus folgte, wischen das Wenige weg, was dem jungen Mann von dem bisschen Hoffnungen, das er noch mit sich herumtrug, übrig blieb. Von einem aufgeblasenen Ego bleibt ein leerer Sack.
Nuphar ist aber nicht allein mit ihrer Lüge. Da ist auch Lavie, der sie im Hinterhof bei dem angeblichen Übergriff beobachtete, der sie zuerst erpresst, der seine Eltern belügt, seine Mutter, die seinen Vater belügt. Oder die alte Raymonde, die aus einer Mischung aus Lust und Not die Identität ihrer verstorbenen Freundin aus dem Altenheim annimmt, die Ausflüge mit Schüler/innen mit dem Namen der Verstorbenen mitmacht zur Erinnerung an die Shoa, Schrecken von denen sie eigentlich verschont blieb, ihr aber mit einem Mal eine Bedeutung verleihen, auf die sie nicht mehr verzichten kann. „Dinge erfinden, um weniger allein zu sein.“
Nebst einer unerhört raffinierten Konstruktion ist es die Sprache, Sätze wie „Am Ende eines jeden Satzes lauerte das Schweigen wie ein Furcht einflössender Hund hinter der nächsten Strassenecke“ oder „Liebe sei vielleicht der einzige Muskel, der im Alter nicht schrumpfe, sondern wachse“ oder „…aber sie waren wieder in ihr eigenes Leben verschwunden und rannten sinnlos hin und her wie mit Gift besprühte Küchenschaben“ – Sätze, die man sich wie Pralinen langsam auf der Zunge zergehen lassen will.
Während Nuphar immer mehr an ihrer Lüge leidet, Avischai Milner einen Selbstmordversuch unternimmt und die Polizei dem Konstrukt immer näher kommt, zieht einem die Autorin unweigerlich ins Resümieren über die eigene Geschichte hinein. Man denkt, das Ausgesprochene wirke im Tun und Lenken des Menschen. Man ahnt, dass das Unausgesprochene, Verschwiegene, Gelöschte sehr oft viel mehr wirkt, tief in das Ausgesprochene hinein und letztlich wenig bleibt von dem, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit sein könnte.
Ayelet Gundar-Goshen ist ein Seismograph menschlichen Gefühlslebens- und bebens, sei das Erzittern noch so unscheinbar und verborgen in den Falten innerer Abgründe.
„Hoffnungslose Sehnsucht schmeckt wie der Inhalt schimmeliger Konserven.“
Literatur, die packt und mitreisst, von einer Autorin, die einem zum Zuhören zwingt – unbedingt lesen!
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, »Eine Nacht, Markowitz« (2013), dem der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde, wird derzeit von der BBC verfilmt.
Titelfoto: Sandra Kottonau