Nelio Biedermann «Lázár», Rowohlt #SchweizerBuchpreis 25/03

Nelio Biedermann, der Shootingstar der CH-Literaturszene, schrieb einen gross angelegten Familien-, Geschichts- und Epochenroman, der an die grossen Vorbilder der Deutschen Literatur erinnert. Ein wagemutiges Buch, das ambitioniert geschrieben ist, mich aber enttäuscht zurücklässt – nicht zuletzt, weil es zum Schweizer Buchpreis nominiert ist.

Der Niedergang einer ungarischen Adelsfamilie vor 100 Jahren. Ein oppulentes Sittengemälde einer Epoche des Umbruchs, eines Reichs, das in seinem Selbstverständnis für die Ewigkeit eingeschrieben schien, einer Familie, die sich aller Selbstverständlichkeiten beraubt sieht, von Familienmitgliedern, die straucheln und stolpern, einer Zeit, die mit den Wirren von Revolution und Krieg erodierte.

Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ ist auch seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, seiner ungarischen Wurzeln, fast 60 Jahre, von der Jahrhundertwende bis zum Ungarnaufstand 1956. Warum sollte man als ehrgeiziger Schriftsteller diesen ungeheuren Schatz an Geschichte und Geschichten nicht anzapfen. Vielleicht hätte ich bei der Lektüre auch viel mehr Bewunderung gezeigt, wenn der Roman nicht in der Liste der besten Bücher der Schweiz zu finden gewesen wäre. Vielleicht hätte ich anerkennend genickt, in der Überzeugung, dass sich da ein Schriftsteller voller Mut und Selbstbewusstsein an einen grossen Stoff wagt und in einer Art und Weise schreibt, die an grosse Vorbilder erinnert.

Aber mit der Brille eines Kommentators zum Schweizer Buchpreis, mit dem Anspruch, hier eines der besten Bücher des Jahres zu lesen, mit dem Wissen, dass ich da einen Roman lese, der zeitgleich in 20 Sprachen übersetzt in den Buchhandlungen überall zu finden ist, wurde die Lektüre schwierig, manchmal fast unerträglich. Und wenn ich mich dann noch hinreissen lasse, all die Kritiken und Rezensionen in den Medien zu diesem Buch zu lesen, dann zweifle ich nicht nur am Geschmack all jener, die mit hymnischen Expertisen den Roman lasen, dann zweifle ich auch an mir.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Schon auf den ersten Seiten erschlägt mich der Roman mit der Fülle an Adjektiven. Ich habe nichts gegen behutsam eingesetzte Adjektive, vor allem dann nicht, wenn sie unvermeidbar sind, wenn sie Eindrücke verstärken, die nicht ohne eben dieses Adjektiv auskommen. Aber ich will, dass das Geschriebene nicht wie mit Ausmalfarben beschrieben wird. Ich will, dass meine Eindrücke durch passende Beschreibungen, oder auch Auslassungen evoziert werden. Zu viele Adjektive lassen Szenen und Beschreibungen grell, überladen erscheinen, stören mehr, als dass sie helfen würden. Für mich unerklärlich, dass ein sogfältiges Lektorat da nicht eingegriffen hat.

Ich liebe Romane, die in „cineastisch“, wie auf Breitlandwand erzählt sind, ausufernd, die in Bildern baden, Geschichte ausbreiten. Aber dann muss jedes Detail stimmen. Ich darf nicht das Gefühl haben, dass da etwas in den Text hineinfliesst, das nicht in die Zeit gehört – oder noch viel schlimmer, das mir zu verstehen geben will, dass der Text auch etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Warum ritzt sich eine der Protagonistinnen? Kann sein, dass es das früher schon gab. Aber wenn ein Roman erzählt wird, als wäre der Erzähler aus den 30ern, dann ist „Ritzen“ kein Thema, auch wenn es das damals in Kreisen des Adels vielleicht schon gab.
Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt. Wenn jemand so jung ist, dann will ich gerade eben diesen jungen Blick sehen, dieses Unverbrauchte, Ungehemmte. Aber die einzigen Szenen, in denen sich der junge Mann ungehemmt zeigt, sind Sexszenen, die so gar keine Erotik verströmen. 

Warum macht Rowohlt aus Nelio Biedermanns Roman einen Bestseller in der Art und Weise? Hilft man dem jungen Autor, in dem man ihn derart pusht? Oder wird man Nelio Biedermann bei allem, was er in Zukunft schreiben wird, an „Lázár“ messen? Ich gönne dem Autor und dem Verlag den Erfolg, jedes Buch, das über den Ladentisch geht, die vollen Säle, wenn Nelio Biedermann liest. Aber ich hoffe auch, dass Nelio Biedermann die Bodenhaftung nicht verliert, die Nähe zu seinem Publikum, auf das er als Schriftsteller auch in Zukunft angewiesen sein wird.

Nelio Biedermann hat viel gewagt. Der Verlag vielleicht noch mehr. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass man sich in einem Verlag sehr gut überlegt, in welches Buch, in welche Autorin, welchen Autor man investieren will, zumal ein gut verkauftes Buch auch viele andere Bücher mitträgt, die aus was für Gründen auch immer von uns LeserInnen nicht goutiert werden. Aber Nelio Biedermann ist ein ungeschliffener Diamant. Und als eben dieser schlecht zu vergleichen mit denen, die sich schon über Jahrzehnte an der Zeit geschliffen haben.

Toll, wenn „Lázár“ gelesen und geliebt wird. Für meine Liebe reicht es nicht.

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Biedermann und die Lobstifter #SchweizerBuchpreis 25/02

Alle Zeitungen, die Tagesschau, der Literaturclub und die Sendung «Zwei mit Buch» berichten mit Begeisterung. Von Daniel Kehlman liest man auf dem Umschlag Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne! Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrocks machen die Runde! Ich, skeptisch ob so viel Lob, frage mich: Muss oder will ich ein solches Buch lesen?

Lieber Gallus

Die Neugier hat gesiegt und ich habe «Lázár» gelesen. Leicht lesbar und unterhaltsam geschrieben erfahre ich vom Schicksal dreier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie in den Weltkriegen und in der Sowjetzeit. Sehr romantisch, farbenprächtig und gelegentlich kitschig geschrieben begegne ich dem Werk eines jungen, fantasievollen Erzählers. Was ich vermisse, sind Entwicklungen der Charaktere, Fragestellungen und die Suche nach Antworten, Reflexionen. Mir fehlt eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen Protagonisten, der Geschichte. Nach Weglegen des Buches klingt wenig nach, vergesse ich rasch.

Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weissen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen  Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre bereits alles eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster und ging ins Bad,…schminkte sich die Lippen klatschmohnrot, steckte die Perlohrringe, die einst Sandors Mutter gehört hatten, in die Ohrlöcher, öffnete das geflochtene Haar, das wie dunkles Wasser über den weissen Stoff des Nachthemds, ihre schmalen Schultern glitt, stand auf und holte die dunkelblaue Strickjacke aus dem Schrank…

Vor ihnen lag Zürich, der See, die weissen Schwäne und verschneiten Berge.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Ein Wunderkind!? Mir tut dieser begabte junge Autor im Kreuzfeuer dieser Medien-Begeisterung leid. Aus einem Interview erfahre ich, dass er gut mit seinem frühen Ruhm umgehen kann, viel liest und diszipliniert täglich schreibt. So hoffe ich, dass er seine literarischen Fähigkeiten trotz Rummel weiter entwickeln kann. Mit «Lázár» hat Nelio Biedermann gegenüber seinem Erstling «Anton muss bleiben» bereits einen grossen Schritt getan. 

Die grosse Medienpräsenz dieses Autors lässt mich auch unseren Literaturbetrieb hinterfragen. Warum reissen sich die Verlage um dieses Buch und sind die geplanten Übersetzungen in 20 Sprachen dauernd erwähnt. Was ist gute Literatur, wer bekommt einen Preis, wer wird beachtet und gefördert? Eine schwierige Frage bei der riesigen Anzahl von Autorinnen und Autoren. Du, Gallus, hast einen besseren Überblick über die Literaturszene: Was denkst du darüber?

Zufällig ist mir unmittelbar anschliessend der schmale Band «Großmütter» von Melana Mvogdobo in die Hand gekommen. Welch grosser Kontrast! In einer äusserst knappen, ausdrucksstarken Sprache, sorgfältig in zwei verschiedenen Farben gedruckt, erzählen zwei Grossmütter ihr Leben. Eine aus einer armen Schweizer Bauernfamilie, eine aus einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Als Grossmütter befreien sie sich nach Demütigungen und Erleiden von seelischer und körperlicher Gewalt von ihren Männern. Wie sie das mit Hilfe ihrer Enkelinnen machen, ist beeindruckend. Ein kluges Buch mit Tiefgang! Mit Nachhall!

Ich muss nachdenken. Ich will verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Und noch viel wichtiger: Weshalb ich nicht in der Lage war, mein Schicksal einfach anzunehmen, wie so viele andere Frauen.

Interessant, dass beide für den Schweizer Buchpreis 2025 nominiert sind. 

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Danke für deine Einschätzungen, die ich eigentlich nur teile, auch wenn ich bisher nur über Melara Mvagdobos Roman «Großmütter» gelesen habe. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Transit Verlag, bei dem ihr Roman erschienen ist, eine Mail, man könne mir den Roman erst in einigen Tagen zusenden, da man nachdrucken müsse. Eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Zum einen zeigt die Situation des Verlags, wie sehr man von dieser Nomination überrascht war und wie gut in der Folge das Buch verkauft wurde, was übrigens auch bei «Die Holländerrinnen» von Dorothee Elmiger geschah, drohte doch eine Lesung in der Ostschweiz ohne Büchertisch mit dem angesagten Titel, was schlussendlich verhindert werden konnte, weil in der Not die eine Buchhandlung der andern aushalf. Ein guter Buchverkauf des einen Buches hilft vielen anderen Büchern des gleichen Verlags, denen es nicht gelingt, die Brieftaschen von LeserInnen aus welchen Gründen auch immer zu öffnen. Zum andern kann der Hunger ausgerechnet in Momenten des grössten Appetits nicht gestillt werden.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Aber nur schon dein kleiner Teaser lockt und steigert die Vorfreude auf «Großmütter», ist doch das Thema «Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen» aktueller denn je in Zeiten, in denen «Männlichkeit» von politischen Parteien zum Kampfwort gemacht wird, Männerbünde in Medien mit Reichtum und kruden Ansichten protzen, Statistiken über Gewalt gegen Frauen mehr als besorgniserregend aussehen und Errungenschaften wachsender Emanzipation und Akzeptanz gegenüber einem LGBTQ-Bewusstsein offensichtlich immer stärker in Bedrängnis geraten.

Hier die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises für den Roman «Großmütter»: Der Roman handelt von zwei Grossmüttern, die in ganz unterschiedlichen Welten leben und die doch viel gemeinsam haben … Als junge Frauen haben sie Träume. Sie heiraten, werden gedemütigt und spüren die engen Grenzen, die das Patriarchat ihnen setzt. Doch irgendwann setzen sie sich zur Wehr. In einer überraschenden Parallelführung zweier Leben zeigt Mvogdobo das, was Frauen über Kulturen und Kontinente hinweg verbindet. Das Buch besticht durch die knappe, messerscharfe und zugleich bewegende Sprache ebenso wie durch seine Milieuschilderungen.

Ich freue mich auf das Buch!

Und «Lázár»? Wenn der hochdekorierte Grossmeister der Deutschen Literatur Daniel Kehlmann, der sich mit «Die Vermessung der Welt» ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Lesegeneration einschrieb, sich zu einer solchen Einschätzung hinreissen lässt und dem Verlag die Erlaubnis gibt, dieses Zitat zu Werbezwecken aufs Buchcover zu drucken, dann muss doch etwas dran sein. Wenn sich Veranstalter um Nelio Biedermann reissen, wenn das Buch eines 22jährigen in mehr als 20 Sprachen gedruckt wird und in Buchhandlungen mit glänzenden Augen um die Wette gestrahlt wird?

Die Frage, was denn gute Literatur sei, treibt mich immer wieder um. Letzthin las ich ein Zitat des Schriftstellers Martin R. Dean: Die Literatur muss am Lack des schönen Scheins kratzen. In einer Zeit, in der Filterblasen und Echoräume sich wie unsichtbare Scheuklappen auf das Subjekt legen, ist der Blick darüber hinaus von grösstem Wert. (aus «In den Echokammern des Fremden» von Martin R. Dean).

Ich habe «Lázár» gelesen und werde mich später differenzierter dazu äussern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises im Foyer Theater Basel, 11.00 Uhr, am Sonntag, den 16. November.

In Freundschaft

Gallus 

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien  im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch