Johann Bargum „Nachsommer“, mare

Ein grosses Haus in den finnischen Schären. Eine Mutter liegt im Sterben und der eine ihrer beiden Söhne, Olof, ruft den andern, Carl, aus Amerika zurück ins Haus der Familie. Es könnte die letzte Gelegenheit sein, ihr zu begegnen. Eine letzte Gelegenheit, um Clara zu treffen, die für Olof mehr als bloss seine Schwägerin ist. Und eine letzte Gelegenheit, um endlich aus dem Schatten eines übermächtigen Bruders zu treten.

Olof sitzt auf der Veranda der Villa, die leer geworden ist und schreibt. Von Onkel Tom, der nicht wirklich sein Onkel ist, aber schon seit Jahrzehnten, seit dem Tod seines Vaters, mit seiner Mutter in den Schären lebt, abgeschieden, wie Geschwister. Von Carl, seinem wenig jüngeren Bruder, der in der Familie aber stets den Vorzug genoss, grösser und stärker, verwegener und bestimmter, ehrgeiziger und erfolgreicher. Von Clara, Carls Frau, mit der er nach Amerika zog und damit als Liebling der Familie in Ungnade fiel. Von den beiden Söhnen Claras, die nicht nur Unruhe in die Villa bringen, in der die alte Mutter im Sterben liegt. Und von ihm selbst, dem Verwundeten, dem Zurückgebliebenen, Zurückgelassenen.

“Weiss man eigentlich jemals, was vor sich geht?“

Olof geht durchs Haus wie durch sein Leben, das durch das Sterben, den Tod seiner Mutter leer geworden ist. Durch ein Haus, auf dem kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wenn sein Bruder Carl die  Villa übernehmen wird. Olof nimmt die Dinge in die Hand, auch im übertragenen Sinn. Dinge, die einst in anderen Händen unentbehrlich waren und nun, in einem anderen Leben, unter anderen Umständen, dem Nachfolgenden mehr als entbehrlich werden; Überbleibsel, Müll, Ballast, der unweigerlich in einer Grube landet.

“Was habe ich eigentlich schon alles glücklich vergessen?“

Olof ist ein Verwundeter, eigentlich der grosse Bruder, aber durch körperliche und „intellektuelle“ Übermacht und Unberechenbarkeit seines Bruders weg- und abgedrängt, nie zu dem geworden, was möglich gewesen wäre. Allein Carls zurückgekehrte Stimme reicht, dass Bilder wieder auftauchen, Narben zu brennen und zu eitern beginnen.

“Manchmal frage ich mich, was der grössere Segen ist, sich zu erinnern oder zu vergessen.“

Und nun, mit dem Tod seiner Mutter und der Gewissheit, dass es nicht noch einmal eine Gelegenheit geben würde, Klarheit zu schaffen, stellt sich Olof seinem Bruder genauso wie der Geschichte mit Clara. Und Tom, der vom Haus- und Familienarzt zum „Onkel“ wurde, reisst mit auf und bringt festgefahrenes Gefüge ins Wanken.

“Selbst wenn man den Mond nicht vom Himmel holen kann, ist es schön, sein Glitzern auf den Wellen zu bewundern.“

Johan Bargum beschreibt in seinem schmalen Roman das, was überall passiert, wenn in einer Familie die Gravitation durch den Tod eines Fixsterns durcheinandergerät. Und ganz beiläufig stellt er die wichtigen Fragen, die das Leben nur dann beantworten kann, wenn man sich diesen Fragen stellt. Ein Roman mit grosser Kraft, geschrieben von einem Mann, der weiss.

Johan Bargum, geboren 1943 in Helsinki, gilt als einer der prominentesten finnlandschwedischen Autoren. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Drehbücher, Hörspiele und zahlreiche Theaterstücke, welche weltweit aufgeführt werden. Sein schriftstellerisches Werk wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Johan Bargum lebt in Espoo. Der Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig, Jahrgang 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen. Karl-Ludwig Wetzig lebt in Den Haag.

Titelfoto: Sandra Kottonau