„Das ist Alise“ ist ein seltsames Buch. Jon Fosse geht es nicht darum, eine dramatische Geschichte zu erzählen. Es sind traumhafte Bilder, Erinnerungen, die sich in der Zeit vermischen, ein langes Gebet über die Unergründlichkeit des menschlichen Schicksals, ein langes Gebet.
Signe erinnert sich. Sie ist alleine alt geworden und wohnt in einem keinen Haus über dem Fjord. Sie liegt auf der Bank im Haus, ihren Blick zur Decke gerichtet, manchmal zum Fenster und erinnert sich an den Tag, als ihr Mann nicht vom Meer zurückkam, als Asle, ihr Mann, auf dem Meer, in den Wellen, der Dunkelheit, dem Regen und der Kälte verschwand und nicht zurückkehrte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, in dem sie mit dem Warten nie ganz aufgehört hat.
Asle wohnte in dem Haus sein ganzes Leben lang, als Kind mit seinen Eltern, als Ehemann mit Signe. So lange wie er verschwunden ist, kannten sie sich, bevor sie heirateten. Zwanzig Jahre lang waren sie gemeinsam in dem Haus, in das Asle nicht zurückkehrte. Signe sieht ihn am Fenster stehen, den Mann, der sich schon vor seinem Verschwinden zu entfernen begann, der immer schweigsamer, immer seltsamer wurde.
Damals war Asle draussen. Schlechtes Wetter. Nichts hat ihn gezwungen, in sein schmales Holzboot zu steigen und hinauszufahren. Und doch stieg er in sein Boot, musste wohl. Einem Boot, das für einen Sturm viel zu klein war, ein Ruderboot.
Draussen, bevor er in sein Boot stieg, auf seinem Spaziergang durch die Dämmerung, sah er Alise, seine Ururgrossmutter mit einem Kind im Arm. Eine Erscheinung. Mit einem toten Kind im Arm, das in dieser Bucht ertrank, ihrem Enkel Asle, seinem Vorfahr, nachdem er getauft wurde.
Jener Asle, der damals ertrank, bekam von seinem Vater zum siebten Geburtstag am 17. November 1897 ein kleines, selbst gebautes Holzboot. Ein Boot, mit dem er noch an seinem Geburtstag im Wasser, im Fjord spielte, Wellen machte mit einem langen Stecken, irgendwann die Hose auszog, um das Boot zurück ans Ufer zu holen – und ertrank.
Im November 1979 stieg Asle in sein Boot, als ob ihn das Boot, das Meer gerufen hätte, und kam nicht wieder. Am nächsten Tag fand man das leere Ruderboot am steinigen Ufer. Fast ein Jahr blieb es dort liegen, bis zwei Jungen aus dem Nachbardorf darum baten, das Boot beim Johannisfeuer verbrennen zu dürfen.
„Das ist Alise“ ist mehrperspektivisch erzählt, kümmert sich nicht um Chronologie, setzt in seiner Erzählart kaum ab, macht selten Punkte, spricht zu mir wie eine Stimme aus dem Off, aus dem Unterbewusstsein. Liest man das Buch laut und ganz langsam, dann spricht jemand. Ein Stimme, die keine Geheimnisse ergründen will, aber dem nachspüren will, was die Menschen in dieser rauhen Gegegend immer wieder aus dem Alltag reisst. Ein archaisches Leben, eine Natur, die nimmt und gibt, von der man keine Logik fordert.
Jon Fosses Novelle liest sich wie ein Meditation, eine Vergegenwärtigung. Da schreibt jemand, der keine Geschichte erzählen will, sondern Gefühle malt, innere Bilder, Stimmungen erzeugen will. Literatur, die sich wie die Musik von Arvo Pärt gängigen Mustern entzieht. Literatur, die nicht abbilden will, wie die Malerei von Gerhard Richter. Literatur, die mich in einen ganz eigenen Sound hineinzieht.
So schmal dieses Buch ist, so beglückend die Lektüre, so nachhaltig die Bilder, die auf der Netzhaus der Erinnerung hängen bleiben.
Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt mit seinem vielfach ausgezeichneten und in über 40 Sprachen übersetzten literarischen Werk als einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Seine mehr als 30 Theaterstücke werden weltweit aufgeführt. Er lebt heute in der »Grotte«, einer Ehrenwohnung des norwegischen Staates am Osloer Schlosspark, in Frekhaug bei Bergen und in der niederösterreichischen Gemeinde Hainburg an der Donau. 2023 erhielt Jon Fosse den Nobelpreis für Literatur.
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren zählen Louis-Ferdinand Céline, Jean Echenoz, Tomas Espedal, Henrik Ibsen, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds, dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert) und dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.
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