Kjersti A. Skomsvold «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone», Hoffmann und Campe

Es gibt Bücher, die Geschichten erzählen. Es gibt Bücher, die phantasieren, solche, die entschlüsseln, andere, die verschlüsseln. Kjersti A. Skomsvolds Roman «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist so eigenartig wie sein Titel. Der Blick einer jungen Frau, einer Mutter, einer Schriftstellerin, einer Geliebten, einer Freundin, einer Ehefrau. Etwas wirr erzählt, als sässe man einer Freundin gegenüber, die nach langer Zeit zu erzählen beginnt, aber eigentlich dem Kind zugewandt, dessen Mutter sie wird.

Kjersti A. Skomsvold erzählt in ihrem Buch, der sich Roman nennt, keine zusammenhängende Geschichte, schon gar nicht chronologisch. Sie schreibt über ihr Leben, wie sie ihren Mann kennen lernte, ihre Familie, die Geburt ihrer beiden Kinder, ihr Schreiben, ihre Ängste, ihre Befürchtungen. Alles Banalitäten, über die andere kein Wort verlieren würden, weil es nach dem Eigenen klingen würde. Andere, die darüber schreiben würden, liessen es zu einer Nabelschau verkommen, einem Wehklagen darüber, wie klein die Welt mit Kindern und Pflichten geworden ist. Bei Kjersti A. Skomsvold liest sich das überraschend anders. Kjersti A. Skomsvold beobachtet sich selbst, lotet sich aus, folgt ihr selbst auf ihrer Spur, ohne den wehleidigen, schmerzerfüllten Blick in einen Spiegel, der nie das zeigt, was man sich erhofft.

«Ich dachte, die Liebe bedeutet, einen neuen Menschen zu entdecken, aber es bedeutet, sich selbst zu entdecken.»

Was sich in den ersten Seiten wie das Protokoll einer schwierigen Geburt liest, bei der man sich bei der Lektüre fragt, ob Mann sich dafür interessiert, weitet sich das Feld aus. Selbst im Moment der Geburt, werden Fragen existenziell. Kjersti A. Skomsvolds Blick auf ihren Ausschnitt der Welt wird zu einem Schaufenster in ein Stilleben der Moderne, in die Zerrissenheit der verschiedenen Gegenwarten, in die Erkenntnis, dass man sich selbst fremd bleibt, selbst dann, wenn aus der Sehnsucht nach Nähe Liebe wird, selbst dann, wenn neues Leben in einem wächst, selbst bei eigen Fleisch und Blut.

«Die Liebe ging schnell, eine dreiköpfige Familie und dann eine vierköpfige zu werden, noch schneller, nur das Schreiben geht unglaublich langsam.»

Sie erzählt von Bo, ihrem Mann, diesem ängstlichen Mann, den sie kennen lernte, mit dem sie zusammen kam, einen Hausstand gründete und irgendwann den gemeinsamen Wunsch, Kinder zu bekommen «in die Tat umsetzte». Beide verletzlich in ihren Ängsten und Befürchtungen. Wie mit den Kindern die Perspektive ändert, man mit einem Mal nicht mehr das Gefühl hat, es reiche, auf den eigenen Beinen zu stehen. Wie Fremde immer vertrauter werden, aber eigentlich doch Fremde bleiben, aussen vor, selbst die Kinder, die einem dirigieren. Bo ist Künstler, sie Schriftstellerin. Er arbeitet mit Gipsplatten, sie mit Worten, die sie in jeder freien Sekunde aufs Papier zu bringen versucht, so wie Per Olov Enquist, der am Tisch schrieb, während das Kind darunter mit seinen Socken spielt.

«Mein eigener Tod ist näher gerückt, seit ich Kinder habe, das Leben wirkt kürzer und länger zugleich. Kürzer, weil mir klar ist, dass ich nicht so wichtig bin, wie ich geglaubt hatte, sondern nur ein kleines Stück von etwas unendlich Grossem.»

«Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist ein eigenartiges Buch, das mich bei der Lektüre hin- und herzerrte zwischen Begeisterung und Unverständnis. Vielleicht ist es die Fähigkeit der Autorin, aus sich herauszutreten. «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist kein Tagebuch, aber vielleicht ein Spiegelkabinett. Wer in den Spiegel schaut, sieht nicht sich selbst, sondern sein seitenverkehrtes Spiegelbild. Kjersti A. Skomsvold stellt ihren Spiegelgarten so, dass sich ihr Sein und Tun mehrfach spiegelt, dass ich mich selbst in diesen Spiegelungen sehe. Es offenbaren sich Abgründe und Höhen, Selbstzweifel und Euphorie, Leidenschaft und der ganz gewöhnliche Grabenkrieg einer Langzeitbeziehung.

Ein Roman über das Schreiben, von der Macht des Schreibens und der, schreiben zu wollen, um jeden Preis, um sich selbst und manchmal gar andere zu retten.

© Agnete Brun

Kjersti A. Skomsvold, geboren 1979 in Oslo, gilt als die wichtigste Gegenwartsautorin Norwegens. Für ihren Debütroman Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich (Hoffmann und Campe 2011) wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie Lyrik und autobiographische Prosa.

Ursel Allenstein (1978) übersetzt Literatur aus den skandinavischen Sprachen. u. a. Sara Stridsberg und Christina Hesselholdt. 2013 erhielt sie den Förderpreis der Kulturstiftung NRW und 2019 den Jane Scatcherd-Preis.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Miriam Toews «Die Aussprache», Hoffmann und Campe

«Die Aussprache» ist das fiktive Protokoll einer Auseinandersetzung. Auf dem Dachboden einer Scheune entscheidet sich die unmittelbare Zukunft von Frauen und Kindern, die sich der Willkür der Männer und des von ihnen geschaffenen Systems entgegenstellen wollen. Miriam Toews hat etwas Einmaliges geschaffen!

In einer abgeschotteten Mennonitengemeinde in Bolivien, der Manitoba-Kolonie, werden zwischen 2005 und 2009 Frauen und Mädchen regelmässig nachts «von Teufeln heimgesucht». Sie wachen morgens blutend und mit Schmerzen auf, werden in der Folge oft krank und schwanger. Man beschuldigt sie des Ehebruchs, bezichtigt sie der Lüge, erklärt die Beteuerungen der Frauen als ungezügelte weibliche Fantasie. Bis eine der Frauen einen der Männer auf frischer Tat ertappt, dieser in der Folge sieben weitere Männer aus der Gemeinde verrät, die acht Männer festgenommen werden, Haftentlassung auf Kaution aber deren Rückkehr droht.

«Ich sehe, wie die Welt sich überschlägt, wie Wellen, aber ohne dass da ein Meer wäre oder ein Ufer.»

Miriam Toews hat aus diesen Tatsachen ein Buch geschrieben, das fast ausschliesslich von jenen Tagen berichtet, in denen sich die Frauen der Gemeinde, auch die Opfer, in einer Scheune treffen und beraten, wie zu reagieren ist, bevor die zurückkehrenden, schuldigen Männer sie vor vollendete Tatsachen stellen. Da alle Frauen Analphabeten sind, schreibt der in Ungnade gefallene Lehrer des kleinen Ortes ein Protokoll dieser «Aussprache».

«Die Aussprache» ist kein wirklicher Roman. Miriam Toews wollte weder die Geschichte der Frauen nacherzählen, noch Leser oder die Leserin zu nahe an die ProtagonistInnen heranlassen. Ich lese mit der Spannung, was geschehen wird, wenn die Männer zurückkehren, aber das ist den Gesprächen nur als tickende Uhr unterlegt. Auch die miteinander redenden Frauen in der Scheune bleiben Stimmen, bleiben eindimensional, selbst mit Namen und Status innerhalb der Frauengemeinschaft. Der einzige, der mir nahekommt, ist der Lehrer, August Epp, der sich einst traute, die Sekte zu verlassen, in der Stadt zu studieren und zu leben, der aus Naivität mit dem Gesetz in Konflikt kam, im Gefängnis sass, zurück nach Molotschna kam, aber nie mehr vollwertiges Mitglied der Gemeinde werden konnte – höchstens Lehrer (für die Knaben!).

Als Roman scheitert «Die Aussprache» grandios. Aber eigentlich nur darum, weil es für ein Buch wie dieses keine Nische gibt. «Die Aussprache» liest sich wie ein Theaterstück, ein Kammerspiel für ein Dutzend Frauen und einen Mann. Der Dachboden einer Scheune wird zur grossen Bühne der grossen Fragen und grossen Entscheidungen.

«Wo ist das Böse? In der Welt da draussen oder in der Welt hier drinnen?»

Trotzdem ist «Die Aussprache» ein wichtiges Buch. Eines der Bücher, die sich mit abgeschotteten, isolierten, patriarchalisch dominierter Gemeinschaften auseinandersetzt, die alles daran setzen, «gottgewollte» Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Frauen sind still gehaltene Gebär- und Bedienmaschinen. Strukturen, die sich auf der ganzen Welt hartnäckig halten, Strukturen, die als Pulverfass bei einer Eskalation ein ganzes System in den Abgrund reissen (Sonnentempler).
Aber «Die Aussprache» ist vor allem ein hoch philosophisches und gesellschaftskritisches Buch, das sich mit Fragen auseinandersetzt, von denen man leicht glaubt, die wären allgemeingültig beantwortet. Mitnichten! «Die Aussprache» ist die Geschichte darüber wie leicht aus Opfern Täter werden, wie leicht sich Opfer der Willkür der Täter selbst nach einer Verurteilung aussetzen müssen. Wie man Täter «schützt», man sperrt sie vorübergehend ein, und Opfer sich selbst überlässt.

Die Runde der Frauen muss entscheiden; bleiben, schweigen, «vergeben» und akzeptieren – bleiben und kämpfen gegen zementierte Strukturen – oder fliehen, in eine Welt, die die Frauen in der Abgeschiedenheit ihrer Gemeinschaft nicht kennen. Wie auch immer sich die Frauen entscheiden, sie bleiben weiterhin Opfer.

© Carol Loewen

Miriam Toews, geboren 1964 in Steinbach/Manitoba, ist eine der wichtigsten kanadischen Gegenwartsautorinnen. Mit «Ein komplizierter Akt der Liebe» wurde sie international bekannt. Für «Die fliegenden Trautmans» und «Das gläserne Klavier» erhielt sie den Rogers Writers› Trust Fiction Prize. Sie lebt und arbeitet in Toronto.

Monika Baark, die Übersetzerin, geboren 1968 in Tel Aviv, wuchs in Toronto, New York, Moskau, Bonn und Antwerpen auf. Sie studierte Anglistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und lebt seit 1998 als freie Übersetzerin in Berlin. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u. a. Jeanette Winterson, Margaret Atwood und Claire Messud.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lieber Wolf Haas

Ich lief in Zürich der Limmat entlang und sah in Eile diesen Mann, den ich kannte. Ich war schon ein paar Schritte weiter, als es mir in die Erinnerung schoss. Das waren Sie, Wolf Haas, von dem ich eben ein weiteres Buch gelesen, über den ich mich gerade eben im Zug mit einem Freund unterhalten hatte. Ich ging die paar Schritte zurück und schaute durch die grosse Fensterfront. Sie sassen in einem tiefen Sessel, schauten in ihr Mobilephone. Auf dem Tischchen vor ihnen stand ein halb volles Glas Fruchtsaft. Oder zumindest sah es alkoholfrei aus. Ich zögerte einen Augenblick, entschied aber, dass es keiner dieser endlos vielen Augenblicke werden sollte, die ich in meinem Leben unter dem Titel „Ich hätte es tun sollen“ abbuche. Ich betrat das Lokal, überhörte den Gruss der jungen Frau hinter der Theke und stellte mich vor Sie. Ich grüsste Sie mit Namen, wollte die Reaktion prüfen, meine letzten Zweifel beseitigen, sieht doch jemand, den man sonst nur aus Interviews auf dem Bildschirm oder aus Reihe 28 bei einer Lesung in einem riesigen Saal kennt, in der eigenen Realität entscheidend anders aus. Sie hoben den Kopf, grüssten zurück und ich sagte meine Sätze, wie sehr ich ihr Buch mag, wie sehr ich ihr Schreiben bewundere und wie tief ich mich vor ihnen verneige. Sie lächelten, nahmen die Huldigung wie einer entgegen, der sich noch immer wirklich freut, was wiederum mich freute. Ich zog mich wieder zurück, liess sie wieder allein in Zürich an der Limmat, bei einem Fruchtsaft und ihrer Verbindung in den Äther.
Ich war unterwegs ins Literaturhaus, ein paar Blocks weiter. Delphine de Vignan las. Jetzt im Nachhinein frage ich mich, was geworden wäre, wenn ich noch ein paar Bissen Mut mehr gehabt hätte, wenn ich sie frech gefragt hätte, ob ich mich für ein paar Minuten hätte zu ihnen setzen dürfen. Ich tat es nicht, das war gut. Sie schenkten mir einen Blick, ihre Überraschung und ihre Freude. Und einen Augenblick, den ich wohl noch einige Male erzählen und ausschmücken werde, bis er eine Erinnerung wird, jener Moment, als ich Wolf Haas in Zürich traf.

Lieber Herr Frei-Tomic,
vielen Dank für Ihre Nachricht an Wolf Haas, die wir dem Autor weitergeleitet haben. Herzliche Grüße, der Verlag

Lieber Wolf Haas,
«Junger Mann» ist, was man von einem Haas erwartet. Er muss etwas anders sein, als alles andere, was man liest; der Schauplatz normaler, der Witz direkter,  die Pointen schlagender, das Personal in seiner Art so bieder, dass es einem im Kleid der 70er Jahre schon wieder schräg erscheint. «Junger Mann» ist ein echter Haas; mit Schalk erzählt, so gekonnt konstruiert, als würden Sie einfach bloss aus Ihrem Leben erzählen. Ein Buch, das nach seiner Verfilmung schreit, das im besten Sinn unterhält, ohne nie auch nur einen Hauch Oberflächlichkeit zu verströmen.

Ein Junge wächst auf, wo die High Society ihre Ruhe in grossen Häusern sucht und alle andern sonst nur weg wollen. Und wer es nicht schafft, hofft auf die Wende nach der Ausbildung oder das Geschäft mit denen, die in den Ferien in den grossen Häusern leben. Der Junge macht einen Ferienjob an der Tankstelle, nach einem Beinbruch von allzu viel tröstender Schokolade aufgequollenen einen orangen Overall gezwängt. «Danke Fräulein», piesackt man ihn. So wie Tscho in seinem Truck, wenn der Junge auftankt und das Insektenmassaker von der Frontscheibe putzt. Tschö hat eine Freundin, eine Frau, Elsa, die dem Jungen nach winterlichem Frontscheibenkratzen wie eine Erscheinung unauslöschlich ins Herz schiesst. Aber er, der Junge, von dem Sie, Herr Haas, bei Interviews verraten, dass einiges von Ihnen in der Geschichte steckt, in seiner Speckhülle vom Glück abgetrennt, bleibt weggeschlossen, irgendwie vom Leben abgetrennt. Also beginnt er zu fasten. Und so wie die Kilos schwinden, nimmt ihn das Leben im Dorf immer mehr mit, bis ihn Tscho heisst, in den Truck zu steigen. Er brauche ihn, den Gescheiten, als Dolmetscher. So wird der zweite Teil Ihres Romans ein Roadtripp. Tscho braucht seinen Begleiter aber nicht, um an der Grenze zu dolmetschen. Der Junge soll aber durchaus vermitteln, schlussendlich sogar mit einer Knarre in der Hand.

Lieber Herr Haas, Sie erzählen Geschichten, die anrühren, ohne je kitschig zu sein. Mit Ihrer unverwechselbaren Art des Humors entgehen Sie allen Untiefen der Rührseligkeit. Wer «Junger Mann» gelesen hat, mag Sie noch mehr als zuvor, denn Sie schneiden nie auf, nie. Auch nicht, wenn Sie vor vollem Saal hunderte von Begeisterten verzücken.

Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Seine Brenner-Krimis erschienen ab 1996 in acht Bänden, zuletzt «Brennerova» (2014). Der Roman «Das Wetter vor 15 Jahren» erschien 2006, «Verteidigung der Missionarsstellung» 2012 bei Hoffmann und Campe. Wolf Haas lebt in Wien.

Beitragsbild © Josef Perndl