Der neue Roman „HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“ von Peter Höner ist ein gewagter, frivoler und sehr eigenwilliger Roman eines Autors, der sich weder schubladisieren noch von den gegenwärtigen Strömungen beirren lässt. Ein irisierendes Kunstwerk, das tut, was nur Kunst kann; imaginieren!
Salvador hat die Pflichtschulzeit hinter sich und erst einmal genug von Zwängen, Stundenplänen und Pflichten. Er sitzt zuhause in seinem Zimmer, nur durch eine Tür von seiner Mutter entfernt und huldigt seiner Spielleidenschaft an Tastatur und Konsole. Bis sich HG neunzehn meldet, die Stimme aus dem Off, und ihn nach Frankreich auf ein Schloss lockt. Eine Reise beginnt, eine Reise zwischen die Wirklichkeiten.
Dem Roman vorangestellt ist die Frage «War ich jemals wirklich wach?». Liest man Peter Höners neusten Roman mit dieser Frage im Kopf, ist der Text genau das: die dauernde Suche nach den Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen analog und digital, zwischen real und künstlich. Salvador, der Gamer, hat ganz offensichtlich Mühe, die verschiedenen Welten auseinander zu halten. Sind es Traumzustände, die ihn halluzinieren lassen oder spielt die Realität Katz und Maus mit einem der nicht mehr zu unterscheiden weiss? Wer ist der geheimnisvolle Absender HG neunzehn, der stets zu wissen scheint, wo Salvador ist, der ihm stets so viel digitale Brosamen vor die Füsse wirft, dass Salvador die Flinte an diesem rätselhaften Ort nicht ins Korn wirft.
Seltsame Figuren begegnen ihm, ein Schloss voller Figuren, manchmal real, manchmal in seltsamer Ferne, manchmal von einer anderen Welt. Auf dem Nachbargrundstück, das hinter einer hohen Mauer nur durch eine verborgene Lücke zu erreichen ist, tummeln sich noch viel fremdere Gestalten; Kleinwüchsige mit putzigen Kappen, eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren oder grosse Hunde mit rollenden Augen, auf denen man reiten kann.
Nach seinem beim Limmat Verlag erschienen Krimi «Kenia Leak» bewegt sich Peter Höner in einer diametral anderen Ecke des Erzählens. Was im Krimi einer Logik zu folgen hat, sprengt in seinem neuen Roman fast alle Grenzen. Was im Krimi nie über die Grenzen der vorstellbaren Realität hinauswachsen sollte, ist in HG neunzehn völlig losgelassen. Peter Höner fabuliert, schwadroniert und legt ebenso verwirrende Fährten wie HG neunzehn mit seiner digitalen Schnitzeljagd. Wer bereit ist, sich bei seiner Lektüre auf ein Abenteuer einzulassen, ist bestens unterhalten, reichlich belohnt.
Peter Höner schwelgt in Bildern, so als hätte er für dieses Buch allein einer Gamewelt erschaffen; klar realistisch erscheinende Bilder, die sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen. Nicht einmal die Grenzen des Lebens, das Sterben und der Tod sind für diesen Ritt von einem «Level» zum nächsten unüberwindbar. Es wird in kleinen und grossen Toden reichlich gestorben, üppig und cineastisch. Da stellt sich die Frage durchaus, ob man je wach war, er während des Schreibens, ich während des Lesens, wir während des Lebens. Aber Literatur soll und muss sich nicht begrenzen lassen, darf Grenzen lustvoll überschreiten. Und das tut Peter Höner in jugendlicher Frische, als hätte er in dieses Buch alles hineinbringen wollen, was er schon längst einmal beabsichtigte; grenzenloses Sprachspiel.
Ein paar Fragen an den Autor:
In einem Alter, in dem sich andere Autoren in ihrem „Spätwerk“ noch einmal von grossen Gefühlen einholen lassen, tust du das auch. Aber ganz anders. Zumindest ich spüre bei der Lektüre deine Lust, deine Schreibfreude, deinen Schalk und deine Absicht, jetzt erst recht mit der „grossen Kelle“ anzurühren. War dieser Roman auch eine Befreiung?
Die Befreiung besteht wohl in erster Linie darin, dass die Geschichte von Salvador erzählt und geschrieben ist. Ich habe mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet, nicht ununterbrochen, in den zwanzig Jahren sind ja noch andere Bücher entstanden, aber immer wieder, weil mich der Stoff nicht losgelassen hat, weil ich dem Schelm Salvador nicht Meister wurde.
Salvador Patrick Fischer ist jung, hormongesättigt und lebt in einer Welt zwischen Realität und Digitalem. Der Mutter gelingt es längst nicht mehr, den Sohn von der Konsole zu locken. Als Schriftsteller mit Jahrgang 47 nicht unbedingt jene Welt, die man ihm am nächsten stellt. Steckt da eine Spielernatur oder ist dieses Buch nach langer Recherche durch die digitale Welt entstanden?
Vor zwanzig Jahren haben mich die Bilder und Welten der frühen Computerspiele tatsächlich zum Spielen verleitet, ich wollte dahinterkommen, wie so etwas gemacht wird, und ich fand dieses interaktive Geschichtenerzählen so spannend, dass ich es gern beherrscht hätte. Mit ein paar Schriftstellerkollegen habe ich 2002 sogar ein Projekt für die Schweizerische Landesausstellung eingegeben, in dem die Besucher als Avatare mitspielen konnten. Eines der vielen Projekte, das dann aber nicht realisiert wurde.
Noch vor zwei Jahrzehnten hätte ein Buch „Der sonderbare Ausflug in die digitale Welt“ geheissen. Dein Roman ist ein Roadtripp über die Realität hinaus, die Reise eines Nerds weg von der Konsole, begleitet nur von Herbert, seinem personifizierten Mobilephone. Dein Roman ist keine Warnung über die Auswirkungen von Spielsucht oder Weltentfremdung. Was war die Urmotivation, dieses Buch zu schreiben?
1998 besuchte ich meinen Cousin in Frankreich, der sich vorgenommen hatte, einen überwucherten Park eines Schlosses zu restaurieren. Doch Schloss, Park, Ruinen, Orangerie, alles, was zu diesem Schloss gehörte, waren Träume eines Neureichen, der sich einen Adelssitz bauen liess, um mehr zu scheinen, als er war. – Doch von diesen Scheinwelten zu Salvadors sonderbarem Ausflug gab es mehr als einen Umweg.
So wie die digitale Welt Bilder erzeugt, tat es auch immer wieder die Kunst, die Literatur, die Malerei. In deinem Roman werden sogar Bilder lebendig, so wie „Die Sünde“ von Franz von Strunk, eine Femme fatale mit grossen Augen und viel reizender Haut. Eine Frauenfigur, die dem umherirrenden Salvador Patrick Fischer rätselhafte Begleiterin ist. Du reisst alle Grenzen nieder, machst dich auf in eine Welt zwischen Wachtraum, Realität und Künstlichkeit. Du schreibst auf einem Berg, über allem, mit Sicht bis weit in die Berge. Abgehoben?
Nein, abgehoben ganz bestimmt nicht. Salvador ist weder überheblich, noch besonders brillant, ein Schelm, unerfahren, neugierig und mit einer Aufgabe überfordert, die er erst im allerletzten Moment versteht. Ein Opfer dieses rätselhaften HG 19.
Das Buch ist nicht nur inhaltlich eine Besonderheit, sondern auch optisch und haptisch: Mehrfarbig gesetzt, mit blauer Fadenheftung gebunden, das Cover von einer eigenwilligen Künstlerin (Manuela Müller) illustriert. Warum nicht mehr bei deinem Stammverlag?
Eine der Geschichten, die im Roman vorkommen, wurde schon unter dem Titel „Die indische Prinzessin“ in der Edition Howeg veröffentlicht, da war es naheliegend mit dem Roman bei Thomas Howeg anzuklopfen, gerade weil sein Verlag für Besonderheiten, respektive schöne Bücher, berühmt ist.
Peter Höner, 1947 in Winterthur geboren, studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, war Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 ist er freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt, 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten, von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern fast ausschliesslich im Limmat Verlag erschienen.
Ich danke der Künstlerin Manuela Müller für die Erlaubnis, das von ihr geschaffene Coverbild verwenden zu dürfen. Webseite der Künstlerin
«Aufs Land gezogen» von Michèle Minelli und Peter Höner auf der Plattform Gegenzauber
Rezension zu «Kenia Leak» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau