Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa

Ein einziger Augenblick kann eine Katastrophe provozieren. Und dieser eine kurze Augenblick kann sich zu einem nie endenden Sturm auswachsen, aus dem es keinen Ausstieg gibt. Felicitas Korn, die sich bisher als Drehbuchautorin und Filmregisseurin einen Namen machte, weiss ganz genau, wie sie mich mit ihrem feinen Geflecht einspinnen kann!

Felicitas Korn liest am 16. Thuner Literaturfestival «literaare» vom 28. – 30 Mai 2021. 

Wenn es der Virus zulässt, wird Felicitas Korn an den 16. Literaturtagen „literaare“ in Thun Ende Mai lesen. Dieses Buch allein ist den Weg nach Thun wert! Ihr Roman „Drei Leben lang“ ist raffiniert erzählt, mit einem erstaunlichen Gefühl für Nähe und Distanz, Bildern, die viel mehr erzeugen, als das, was sie zeigen.

Eine Familie fährt mit dem Auto nach Spanien in die Ferien. Vater am Steuer, Mutter daneben, Sohn und Tochter auf der Rückbank. Aber in einem Tunnel wird aus der Abenteuerfahrt in den Süden ein nie enden wollender Alptraum. Es kracht. Die Eltern verbluten zwischen Metall und Beton. Die Kinder rettet man. Michi und Xandra landen in einem Übergangsheim. Und weil sich Michi für seine jüngere Schwester verantwortlich fühlt, büxt er mehr als einmal aus. Zuerst weil er Poppy für seine Schwester holen soll und später, weil er weiss, dass man sie vielleicht nicht an den selben Ort, ins selbe Heim, in die gleiche Familie schicken will. Michi will den kleinen Rest, der geblieben ist, zusammenhalten. Und er glaubt nicht an die vielfach ausgesprochenen Beteuerungen, man wolle nur das beste für sie beide. Und weil Michi immer mal wieder an der Seite seines Vaters an Autos herumschraubte, hofft Michi auf Aziz, den Mann in der Werkstatt, mit dem sich sein Vater so gut verstand. Vielleicht ist Aziz seine Hilfe.

Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa, 2020, 304 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978 3 311 10025 6

King hat sein Kingdom, endlich. Er glaubt, sich lange genug den Arsch aufgerissen zu haben für den Schuppen in Frankfurts Innenstadt, dort wo das Leben brodelt. Wenn er in seiner protzigen Loft über den Dächern der Stadt aufwacht und sich die erste oder auch noch eine zweite Linie durch die Nase hineinzieht, ist jeder Tag wie ein neuer Feldzug im Kampf auf dem Weg ganz nach oben. Auch ein Kampf um Jana, die Unberührbare, seine Schneekönigin, die er von der Seite seines mächtigen Partners und Ziehvaters Mekki abwerben will, die so etwas wie das Tor zu seiner Glückseligkeit werden soll. King glaubt, vor dem ganz grossen Durchbruch zu stehen, das Geschäft mit dem weissen Pulver ganz neu aufmischen zu können. Mit seinen Verbündeten bis nach Südamerika, seinem Leinenhund bei der Polizei und Jana, seiner Göttin des Mondes, glaubt er, unaufhaltsam und unwiderstehlich zu sein.

Und Loosi, einer, den ein erneuter Absturz, ein neuer grosser Suff wohl endgültig unter den Boden bringen wird, dem der Arzt beim letzten Mal Magenauspumpen erklärt, es werde nicht noch einmal ein nächstes Mal geben. Loosi ist ein Loser. Und ausgerechnet er hat sich bei einer der angeordneten Gruppentherapien der minderjährigen, tablettensüchtigen Sanni angenommen. Sie hausen draussen, an den fransenden Rändern der Stadt. Und weil das Leben Geld kostet, weiss Loosi, dass ihm irgendjemand aus der Patsche helfen muss, denn er weiss doch, wie man die Karre zum Laufen bringt.

Drei Leben, drei Existenzen. Drei Leben, die genausogut hätten anders werden können. Drei Leben, bei denen es irgendwann begann, „schief“ zu laufen. Ganz langsam oder urplötzlich wie beim 14jährigen Michi, der eigentlich nur eines will, sich selbst und seine Schwester Xandra retten. So wie King sich selbst und Jana retten will und Loosi Sanni.

Felicitas Korn erzählt aber nicht einfach vier mehr oder weniger aus dem Ruder laufende Existenzen. Die Schriftstellerin und Filmemacherin erzählt mit dem Blick einer Cineastin, mit dem perfekten Gefühl für den Schnitt und dem Verweben von mehreren Erzähl- und Zeitebenen. „Drei Leben lang“ erklärt nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, lässt mich nach dem Ende einer gebannten Lektüre nicht los. Felicitas Korn fesselt mich mit meinen eigenen Bildern!

Interview

Die drei Leben kippen zwischen der Sehnsucht, nicht alleingelassen zu werden, irgendwo zuhause zu sein, Geborgenheit zu fühlen und der Verzweiflung, alles immer wegbrechen zu sehen. Das ist Angst. Was kann Sicherheit geben?

Zunächst muss eine bestimmte materielle Grundsicherung gegeben sein, um sich sicher zu fühlen. Das ist z.B. bei Loosi nicht mehr der Fall. Gesund zu sein, ist auch sehr beruhigend. Ausserdem und v.a. denke ich, dass das Gefühl, geliebt zu werden und jemanden zu lieben, Sicherheit gibt. Geborgenheit, Verbundensein, Aufgehobensein. Michi, King, Loosi verlieren dies viel zu früh, finden es nicht mehr und/oder geben die Hoffnung schliesslich auf, dass sie es nochmals finden könnten. Das ist das Kernthema von „Drei Leben lang“.

„Jeder stirbt an dem beschissensten Gefühl, das es gibt. Der Einsamkeit“, sagt Loosi. Mit dieser Erkenntnis ist Loosi nicht allein. Er teilt die milliardenfach. Dieses beschissene Gefühl grassiert. Ausgerechnet in einer Welt, die sich so vernetzt wie nie zeigen will. Ist Liebe, Familie, Freundschaft nur eine vorübergehende Betäubung? Schlussendlich stirbt doch jeder allein.

Ich denke, dass Liebe, Familie und Freundschaft (a.o.) eine der absolut wichtigsten Dinge im Leben sind, und auch den Sinn des Lebens speisen. Der Sinn ist meines Erachtens, seinen Platz im Leben zu finden, und seine Talente, sein Können, seine Individualität einbringen zu können in die Gemeinschaft. Wenn es aber keine Gemeinschaft gibt, leben wir nur im luftleeren Raum, und dann sterben wir an dem „beschissensten“ Gefühl der Einsamkeit. Dass wir letztlich alle allein sterben, ist natürlich ein Fakt und traurig. Aber ich denke, dass es möglich sein kann, trauernd, oder auch glücklich zu sterben, wenn wir auf ein erfülltes Leben zurückblicken können.

King sieht von seiner Loft hinunter auf die Strassen der Stadt. Auf die Ameisenmenschen, die Tag für Tag zur Arbeit gehen, morgens im Dunkeln aufstehen und abends erschöpft vor der Glotze einschlafen. Die Welt der Kinohelden, Sportidole und Glamoursternchen suggeriert schon den Kindern, dass das Ameisenleben nur etwas für Verlierer und Gescheiterte ist. Man lese in den Freundschaftsbüchern der Kinder, was sie einmal werden wollen! Vor allem Jungs! Auf der einen Seite die heftig geführte Genderdiskussion, auf der andern die kleinen Macker auf Pausenhöfen. Diskutieren wir nicht zu oft über das Falsche?

Ja, wir, die Medien, die Meinungsmacher, die Politiker diskutieren meines Erachtens zu oft über das Falsche. Selten geht es um wahre Werte und die Ursache der Probleme. Meist geht es um Geld, Macht, Ego, Selbstdarstellung. Dass so die narzisstische Prägung der Gesellschaft immer mehr Futter bekommt, ist offensichtlich ein grosses Problem unserer Zeit. Man bedenke zB. Fake News und Komplettverweigerer von belegten Tatsachen. Dass es zB. immer noch Menschen gibt, die die Klimakatastrophe für eine Lüge halten oder die Notwendigkeit der AHA-Regeln für unnötig, ist ein Irrsinn, der einfach nur noch absurd ist, aber leider Realität.

Das sich die Leben von King und den beiden Kindern Michi und Xandra verhängnisvoll kreuzen, blitzt nur in einem einzigen Satz durch. Ein Satz, der durchaus das Kapital für ein ganzes Kapitel gehabt hätte. Aber damit splittern sie die Geschichte geschickt, erzählen, wie man es im Film wahrscheinlich so nicht kann. Wo liegen die grössten Unterschiede zwischen filmischem und literarischem Erzählen?

Beim Drehbuchschreiben geht es vor allem um Handlung, um den Kern-Plot, und als Drehbuchautorin arbeitet man immer als erste Kreative eines langen Prozesses. Sukzessive kommen während der Arbeit immer mehr Menschen dazu, die ihren Teil beitragen. Ausserdem müssen die DrehbuchautorInnen aus Kostengründen dann auch immer mehr ändern, kürzen. Film ist zunehmend eine kreative Dienstleistung für einen harten Markt, die in einem grossen Team erfolgt und einem meist stark begrenzten Budgetrahmen unterliegt. Oft müssen DrehbuchautorInnen im Prozess viel Frustration ertragen, zumindest sehr offen sein, bis ihre Geschichte nicht selten grundlegend verändert und zusammengestaucht, mit dem fertigen Film das Licht der Welt erblickt. Und die Regie ist im Grunde v.a. kreative Projektleitung. Regie hat viel mit Organisation zu tun, man muss parallel denken und planen können, alle Departments im Blick behalten, für wen wann was wichtig ist und wie du in einem bestimmten Zeitrahmen alles sicher nach Hause bringst. 

Der Roman bietet dem gegenüber eine grosse Freiheit. Hier spricht erstmal niemand mit, hier gibt es keine finanziellen Beschränkungen, ausser der, dass der Lebensunterhalt verdient werden muss, und zu einem späteren Zeitpunkt arbeiten Schreibende meist mit nur ein oder zwei Leuten weiter; dem Lektor und dem Verleger. Das ist eine überschaubare Runde, und auf eine gewisse Weise ist in meinem Empfinden die Arbeit an einem Roman wie Drehbuchschreiben und Regieführen in Einem. Die Welt, die man im Film mit der Regie kreiert (die Feinheiten der Figuren, das Innenleben, die Inszenierung, die Bilder, die Farben, die auditive Ebene, der Rhythmus) – das alles macht man im Roman mit Worten.

Auch die Geschichte, die Herkunft von Jana bleibt nur angedeutet. Genauso die Geschichte um den Vater von Michi. Im realen Leben bleibt vieles angedeutet, das meiste. Ausgerechnet in der erzählenden Literatur wird in der Regel hell ausgeleuchtet. Seit die Nabelschau zur einer eigentlichen Gattung geworden ist, erst recht. Verwechseln wir Tiefgang mit  der Helligkeit des Ausleuchtens? 

Das finde ich eine sehr treffende Bezeichnung. Mehr Tiefgang statt Ausleuchten und Nabelschau würde sicher helfen, dass Bildung weiter fortschreitet, die Menschen glücklicher werden und unser Planet vielleicht noch gerettet werden kann.

Meistens lese ich nach der Lektüre noch einmal das Zitat, das die meisten Schreibenden an den Anfang eines Buches setzen. Das ihrige von Marc Aurel ist wie ein Thema; „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben.“ Wann beginnt man zu leben?

Ich denke, man beginnt zu leben, wenn man nicht mehr mit dem Überleben beschäftigt ist, sondern das Leben als solches erfährt. Materiell, emotional und geistig. 

Felicitas Korn, geboren 1974 in Offenbach am Main, ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Werke sind u.a. der Musikclip zum gleichnamigen Hit Supergirl der Band Reamonn, der Kurzfilm nass mit Bela B. von der Band Die Ärzte und der Spielfilm Auftauchen, der nicht zuletzt aufgrund seiner «Radikalität und Konsequenz» (FBW) internationales Aufsehen erregte.
In den letzten Jahren schrieb sie auch immer wieder für verschiedene Fernsehformate. «Drei Leben lang» ist Felicitas Korns erster Roman, dessen Verfilmung sie gerade vorbereitet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Webseite der Autorin

«literaare» Literaturfestival Thun vom 28. – 30. Mai 2021

Beitragsbild © Barbara Rohm