Bulgarien fehlt im Fokus Europas. Selbst drei Jahrzehnte nach der Wende, nach Glasnost und Perestroika zählt Bulgarien zu den „fehlerhaftesten“ Demokratien, obwohl das Land seit 2007 Mitglied der EU ist. Evelina Jecker Lambrevas neuer Roman „Entscheidung“ erzählt von den Jahren des Umbruchs in diesem Land, dem letzten unter kommunistischer Führung, den leisen Hoffnungen einer Öffnung und dem bösen Erwachen im Kampf machtgieriger und verzweifelter Parteieliten.
Anja ist eine junge Ärztin, die direkt nach dem Studium in einen kleinen Ort in der bulgarischen Provinz geschickt wird. Mit Bestnoten aus ihrem Studium und voller Pläne reist sie an und taucht in eine Welt, die in maximaler Entfernung dessen vor sich hinvegetiert, was in den Plänen ihrer Zukunft Gestalt annehmen möchte; ein Häuschen, durch das der Wind pfeift, eine Medizinische Dienststelle, in der das Notwendigste fehlt, ein schäbiger Notfallkoffer, abgelaufene Medikamente und ein Krankenwagen, der allerhöchstens transportiert.
Neben ihren Aufgaben als Landärztin ist sie auch für das örtliche Heim mit Dorfschule zuständig, einen schlimmen Ort, wo Erziehung allein durch Strafen vollzogen wird und wo aus Kindern ohne Vergangenheit Menschen ohne Zukunft geprügelt werden.
Auch die Honoratoren des Dorfes, Genosse Nakov, Mitglied der Staatssicherheit oder der Bürgermeister begegnen der jungen Ärztin mit einer Mischung aus Misstrauen, politischem Kalkül und der Selbstverständlichkeit alteingesessener Machtstrukturen. In einem Land, in dem Korruption, Denunziation und kollektive Angst zum Instrumentarium eines Systems gehören, spürt auch die junge Ärztin Anja, dass ihr Tun und Lassen unweigerlich zu der einen, drohenden Entscheidung führen wird.
Einzige Lichtblicke im Leben der jungen Frau ist die Freundschaft zu Dora, einer jungen, mutigen Lehrerin aus dem Dorf, zu Maria, einem verstörten Mädchen aus dem Heim, das jeden Tag auf ihre Mutter wartet, eine junge Katze, die Maria mit ins Haus der Ärztin bringt und ihre Liebe zu Michail, den sie während des Studiums kennen und lieben lernte. Sie schreibt Michail Briefe, weil ihre Arbeit sie beide fest im Griff hat, weil sie Trost und Rat braucht bei einer Arbeit, die ihr wohl gefällt, in der sie Erfüllung erfährt, die sie aber oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt. Sei es, dass sie medizinische Entscheidungen trifft, die sie mit niemandem besprechen kann, sei es weil sie immer wieder mit ganz intimen Katastrophen konfrontiert wird, sei es weil sie Genosse Nakov mit Versprechungen in den Dienst der Staatssicherheit locken will.
Eines Tages sitzen sich Nakov und Anja in seinem Haus gegenüber. Nakov verspricht ihr eine glanzvolle Zukunft mit den Privilegien der Elite, wenn Anja sich zur aktiven Spionage im In- und Ausland verpflichten lässt. Und weil Anja spürt, dass sie mit einem solchen Deal mehr als nur die Selbstachtung verliert, entscheidet sich die junge Frau gegen das Angebot, gegen den Staat, gegen die Obrigkeit, gegen eine Zukunft als Frauenärztin in der Stadt, gegen die Aussicht, sich dereinst im Ausland weiterbilden zu können. Statt dessen wird sie zur potenziellen Verräterin. Und als Dora ihre Freundin sich ins Ausland absetzt und man ihr Mithilfe zu ihrer Flucht unterstellt, als die Liebe zu Michail in die Brüche geht und man die Katze erschiesst, scheint sich die Dunkelheit in Anjas jungem Leben endgültig wie in einem Sack eingeschlossen einzunisten. Wäre da nicht der Welten Lauf, jener politische Virus, der sich aus dem maroden Sowjetsystem über den ganzen Ostblock ausbreitet.
„Entscheidung“ ist ein geradlinig erzählter Roman von einer Schriftstellerin, die am eigenen Leib erfuhr, was in Bulgarien in den späten Neunzigern passierte. „Entscheidung“ gibt Einblick in einen Staat, in ein System, ein Dorf, das aus der Entfernung von drei Jahrzehnten unsäglich weit erscheint, zumindest aus mitteleuropäischer Sicht. Eine spannend und mit viel Empathie geschriebene Geschichte über den Kampf einer jungen Frau in den Wirren der Geschichte. Ein Roman, der mir bewusst macht, wie gross das Geschenk ist, in einem demokratischen Land geboren worden zu sein. Ein Plädoyer dafür, dass es nicht sein kann, dass man sich jenen Menschen verschliesst, die vor Verfolgung, politischer Willkür und Hoffnungslosigkeit ins vermeintliche Paradies fliehen wollen.
Ein Interview mit Evelina Jecker Lambreva:
Sie selbst sind 1963 in Bulgarien geboren und 1996 in die Schweiz gekommen. Dora, die Freundin Anjas, setzt sich ins Ausland ab und droht mit ihrer Flucht, andere mit sich in den Generalverdacht des Verrats hineinzuziehen. Ein Umstand, der vielen Flüchtenden das Gewissen plagt, sei es damals aus dem Ostblock oder Flüchtenden heute, die Familien und Freundschaften zurücklassen. Warum blieb und bleibt Bulgarien nie im Bewusstsein Mitteleuropas, weder politisch, noch kulturell, heute nicht einmal als Feriendestination?
Bulgarien war politisch schon immer für Mittel- und Westeuropa völlig uninteressant, da es nicht als Instrument zur Erreichung von diversen politischen Zwecken und Interessen eingesetzt werden konnte und kann. Es passiert und bewegt sich zu wenig in diesem Land, da die Bulgaren ein äusserst duldsames, gehorsames und überangepasstes Volk sind. Dies liegt in der Geschichte des Landes verwurzelt: Die 500 Jahre osmanische Herrschaft haben tiefe Spuren in der Mentalität und im kollektiven Verhalten der Bevölkerung hinterlassen. Kaum war Bulgarien 1878 durch Russland von der türkischen Herrschaft befreit worden und begann seinen Platz in Europa mit einem deutschen König zu suchen, kam nach nur 66 Jahren europäischer Orientierung die Sowjetische Herrschaft des Kremls für weitere 45 Jahre. Überhaupt begab sich das Land – seit dem Fall unter den Osmanen 1396 – immer wieder in Abhängigkeit von irgendeinem mächtigen Staat, verhielt sich passiv und passte sich den Umständen an, so wie es übrigens auch in einem bulgarischen Sprichwort heisst «Ein gebeugtes Köpfchen wird von keinem Schwert geköpft». Bulgarien verhielt sich über Jahrhunderte – so würde ich es aus meiner Sicht als Psychiaterin sagen – wie ein vergewaltigter Mensch: gefügig, still, eingeschüchtert, voller Scham-, Schuldgefühlen und Angst. Die Jahrhunderte andauernder Unterdrückung kultivierte brave, folgsame Individuen, die sich die Überangepasstheit als Überlebensstrategie aneigneten. Und von solchen Ländern schaut man im Mittel- und Westeuropa einfach weg.
Kulturell hat Bulgarien einiges zu bieten, jedoch interessieren sich westeuropäische Medien kaum dafür. Dies ist meines Erachtens so, weil das Land einerseits politisch uninteressant ist und andererseits, da die Sehenswürdigkeiten in Bulgarien sehr schlecht vermarktet sind. Auch in der Schweiz hört man selten etwas über das Land. Nach wie vor wird Bulgarien mit Rumänien, und die Hauptstadt Sofia mit Rumäniens Hauptstadt Bukarest verwechselt. Sogar darüber, dass die Stadt Plovdiv für das Jahr 2019 immerhin zur Kulturhauptstadt Europas gewählt worden war, hat man hierzulande wenig gehört.
Als Feriendestination würde sich Bulgarien sehr gut eignen, wäre da im Tourismus an der Schwarzmeerküste und in den Bergen nicht die alte Einstellung aus kommunistischen Zeiten geblieben: «Wenn du einen Touristen siehst, schinde ihm die Haut! Ob er morgen wiederkommt, ist egal, Hauptsache, du kannst bei ihm heute abkassieren.» Obwohl die jetzige Regierung sehr viel für die Verbesserung der Infrastruktur im Lande tut, ist das noch immer nicht ausreichend, um aus Bulgarien eine beliebte Feriendestination zu machen. Aber es ist grosses Potential vorhanden, das in den nächsten Jahrzehnten sicher genützt wird. Zumindest ist das meine Hoffnung.
In den Jahren, in denen die Geschichte um Anja spielt, waren sie selbst ziemlich genau so alt wie die Protagonistin. Trotz aller Härte jener Zeit, der Armut und den archaisch anmutenden Verhältnissen schienen sich die Menschen, wenn die Angst vor dem Staat aussen vor blieb, nur zaghaft nahe zu kommen. Die Macht des Staates mischte bis in Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familien. Heute ergeben wir uns freiwillig der Macht der Grossen, sei es Google oder Amazon, sei es Facebook oder sonst ein Globalplayer. Schöne heile Welt?
Heil war die Welt noch nie, und sie kann es auch nicht sein. Aber schön ist sie, die neue Zeit. Weil wir die Wahl haben, ob wir uns dafür entscheiden und wenn ja, welcher Macht wir uns ergeben wollen. Wir dürfen jetzt selbst darüber bestimmen und werden zu nichts gezwungen. Die individuelle Freiheit gibt uns jede Menge Möglichkeiten, ob und in welchem Ausmass wir uns freiwillig in welche Abhängigkeit begeben wollen.
Jeweils am 24. Mai feierte man im Dorf Kyrill und Method, die Begründer der kyrillischen Schrift. Ein Fest mit Reden, Tanz und einem Meer aus Blumen. Kyrill und Method waren aber zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert. Typisch für die Manipulation von Geschichte, wenn es um politische Zwecke geht. Damals nicht anders wie heute. Wie weit ist Anjas Geschichte eine Geschichte um den Kampf gegen Manipulation?
Dass Kyrill und Method zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert waren, wurde im Kommunismus ganz bewusst verschwiegen. Diesem Aspekt wurde nie Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Glaube und Religion waren verboten. Anders als in anderen osteuropäischen sozialistischen Ländern, führten Kirchenbesuche in Bulgarien zum Verlust der Arbeitsstelle oder des Studienplatzes und zu erheblichen politischen Schwierigkeiten. Einzig die Besichtigung von Klöstern war erlaubt, da diese als kulturelles Gut betrachtet wurden. Aber schon das Anzünden einer Kerze in der Klosterkirche galt als politisches Verbrechen, auf welches die Staatssicherheit stets ein waches Auge hielt, um dann das Vergehen sofort im Dossier des Betroffenen schriftlich festzuhalten. Diesem Aspekt habe ich in meinem Romandebüt «Vaters Land», (Braumüller Verlag, 2014) einen besonderen Platz eingeräumt.
Kyrill und Method wurden einzig als Erfinder der Kyrillischen Schrift sowohl vom Staat als auch von der Bevölkerung geliebt, gefeiert und verehrt. Der 24. Mai, der Tag der Kyrillischen Schrift, war und ist ein Fest der Buchstaben, der Bücher, der Literatur, der Kultur, Bildung und des Wissens geblieben. Bis heute ist und bleibt der Tag von Kyrill und Method mein Lieblingsfest in Bulgarien mit seiner Pracht aus Buchstaben, geschriebenem Wort und Frühlingsblüten. Deshalb kann ich den 24. Mai in keinster Weise in Verbindung mit Manipulation bringen.
Kaum zeichneten sich in Bulgarien durch Perestroika und Glasnost umfassende Veränderungen ab, begann ein „Krieg“ auf der Strasse. Bandenkriege und die Verzweiflung eines sterbenden Dinosauriers drohten das Land ins Chaos zu stürzen. Perestroika und Glasnost waren alles andere als eine sanfte Revolution. Hat sich ihr Blick auf diese Zeit in den Jahrzehnten danach verändert?
Der sterbende Dinosaurier, wie Sie ihn nennen, hat nicht nur das Land durch die Bandenkriege und die schreckliche Angst vor deren Anführern, den sogenannten «Fratzen» (ehemaligen Geheimdienstlern, entlassenen Angestellten aus der Volkspolizei Milicija, Sportlern aus dem Ring- und Kampfsportbereich), ins Chaos gestürzt, sondern er hat dank diesem Chaos sogar bis heute überlebt. Heute sind diese Leute Oligarchen und regieren das Land durch die Macht ihres Geldes. Durch Bulgariens Pallastrevolution vom 10. November 1989 konnten sie ihre ideologisch-politische Macht ungestört in Wirtschaftsmacht umwandeln, und dies unter dem nachsichtigen Blick des Westens. Es gibt keine erfolgreichen sanften Revolutionen. Sanfte Revolutionen führen nur zu kosmetischen, nicht aber zu fundamentalen Veränderungen. Deshalb hat in Bulgarien keine echte Wende stattgefunden, sondern nur ein Prozess, der als «Alter Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden muss. Noch immer sind 10’500 ehemalige Angehörige der bulgarischen Staatssicherheit (und das macht ca. 10% aus) in führenden staatlichen Positionen angestellt und besetzen öffentliche Ämter. Eine Durchleuchtung, die Lustration, die sich viele von uns erhofften, hat nie stattgefunden, die Vergangenheit wurde nicht aufgearbeitet und bleibt somit bis heute unverarbeitet. Zum Glück wurde Bulgarien im Jahr 2007 in die EU aufgenommen. Es hat diese einmalige Chance gepackt und kann nun zuversichtlich vorwärtsblicken, auch wenn die unverarbeitete Vergangenheit das Land in seiner Weiterentwicklung stark bremst. Für die kommenden Generationen wird aber Bulgarien dennoch zu einem Land, in dem man gerne leben wird. Vorausgesetzt, es gibt keinen neuen Krieg in Europa und insbesondere auf der Balkanischen Halbinsel.
Anja wird in die Isolation gezwungen. Ihre Freundin flieht, ihre Liebe scheitert, ihre Aufgabe droht ihr zu entgleiten. Selbst Maria, das Mädchen aus dem Heim ist nicht zu retten. Sie sind Psychotherapeutin. Isolation ist ein Phänomen, damals wie heute. Anja ist stark. Aber nicht alle Menschen finden die Kraft. Was kann die Literatur?
Ich denke, Literatur kann viel bewirken. Sie kann aufklären, zum Nachdenken anregen, sie kann helfen, das Leben und den Menschen in ihren Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen, sie kann die Introspektionsfähigkeit des Einzelnen fördern. Literatur kann seelische Kräfte und Ressourcen mobilisieren, selbst grausamen Diktatoren wie Stalin war das bekannt. Vergessen wir nicht, dass Stalin während der Blockade von Leningrad der aushungernden Bevölkerung den Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi verteilen liess und sie aufforderte, den Roman zu lesen, um ihren Selbsterhaltungstrieb anzuregen, um die Widerstandskraft und die Moral der Bevölkerung zu stärken. Literatur kann ohne Zweifel in schwierigen Zeiten Kraft und Trost spenden. Durch Austausch von Gedanken und Meinungen über Bücher kann sie Freundschaften schaffen und somit helfen, Isolation und Einsamkeit zu überwinden. In der Welt der Bücher kann man sich kaum einsam fühlen. Denn durch die Flucht in diese Welt und ins Lesen kann man unerträgliche Realitäten erträglicher machen. Literatur verbindet, sie schafft Brücken zum uns Fremden und Unbegreiflichen. Sie besitzt sogar eine Art heilende Kraft, was sich aus der Arbeit mit Bibliotherapie deutlich zeigt.
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) und «Nicht mehr» (2016).
Rezension von «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau