Sie hat es wieder getan, tut es immer wieder und reisst mich mit. Diesmal mit einer Leidenschaft, die für einmal ganz wörtlich zu nehmen ist. Annie Ernaux erzählt vom langen Erwarten, von leidenschaftlicher Hingabe an kurze Momente und von den Sturmschäden, die diese Leidenschaft hinterlässt.
Es war wohl nicht jene Liebe, von der wir uns so gerne erzählen, von Zweisamkeit, Treue und echter Zuwendung. Sie lernt einen Mann kennen, gibt ihm in ihrer Erzählung nur die Initiale A. Vielleicht weil der Mann ersetzbar wäre und es nicht er selbst ist, der sie erzählen lässt. Er sieht gut aus, ein bisschen wie Alain Delon. Aber er ist kein Franzose, immer wieder unterwegs wegen seiner Arbeit, verheiratet und ohne Absicht, sich in jener Zeit wegen dieser Leidenschaft von seiner Frau zu trennen. Und er trinkt. Oft riecht sein Atem bei ihren hitzigen Treffen von Alkoholischem. Aber sie nimmt alles in Kauf, weil es nicht der Mann ist, der der Leidenschaft den Boden gibt. Es sind ihre Gefühle selbst, dieses Eintauchen in einen Rausch, der sie ausfüllt und einnimmt, ihr ganzes Sein durchsetzt, ihr Tun ausrichtet, den Alltag überstrahlt.
Die Erzählperspektive ist es, die mich bei der Lektüre fasziniert. Annie Ernaux schreibt nur rudimentär über jenen Mann. Selbst die Beschreibungen seines Körpers bleiben seltsam sachlich, genauso die Beschreibungen dessen, was in jenen aufgeheizten Momenten der körperlichen Leidenschaft in Hotelzimmern oder sonst wo passiert. Es ist diese Ratlosigkeit über sich selbst, die Erkenntnis, dass mit Ratio nichts zu erreichen ist, dass Leidenschaft einem passiert, dass sie wegreisst, die Vernunft auf der Strecke lässt. Deshalb ist ihr Erzählen auch in keiner Weise exhibitionistisch. „Eine Leidenschaft“ ist ein Erklärungsversuch, keine Analyse, aber der Versuch einer Einordnung.
Annie Ernauxs damalige Leidenschaft bestand fast nur aus Warten und Erwarten. Ein überlanges Vorspiel auf einen ekstatischen Höhepunkt. Mag sein, dass der beschriebene Sex damals, als das Buch vor 30 Jahren in Frankreich erschien, als obszön und pornografisch empfunden wurde. Heute lesen sich jene Szenen seltsam distanziert und sachlich. Annie Ernaux baut ihren Text nicht um jene Szenerien, sondern um die Auswirkungen dessen, was das Warten und Erwarten mit ihr macht. Den tatsächlichen Wunsch nach Erfüllung scheint es nicht zu geben. Ernaux spürt dieser Entrückung nach, diesem Zustand, der sich fast ganz von der Vernunft abkoppeln kann, der ebenso viel Erfüllung erreichen kann wie die Entladung, der Orgasmus selbst.
Annie Ernaux ist ein Phänomen, nicht nur sie selbst, ihr Schreiben, sondern auch das Verhalten all jener, die ihre Bücher kaufen und die Schriftstellerin durch ein Leben begleiten, dass die Autorin offenherzig, ehrlich ausbreitet. Nicht das Leben einer Heldin, sondern das einer Frau, die in ihrem Leben genug Anlass gehabt hätte zu resignieren. Wer einmal in den Sog dieser Autorin geraten ist, kann sich dem nur schwer entziehen, wenn wieder ein schmucker Band aus der Bibliothek Suhrkamp erschienen ist.
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.
Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Rezensionen auf literaturblatt.ch: «Das Ereignis» (2021), «Eine Frau» (2019), «Der Platz» (2022)
Beitragsbild © Heike Steinweg