Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin

Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit seinem Dasein auseinanderzusetzen. Der Schriftsteller und Fotograph Fritz Mühlemann wählt seinen ganz eigenen Weg. In „Föhn.Sturm“ legt er eine Spur durch die Zeit, setzt sein Dasein in eine lange Kette, bis zurück ins Holozän. „Föhn.Sturm“, ein langes, in verschiedene Kapitel unterteiltes, illustriertes Langgedicht, ein Vergegenwärtigung, woher die Winde wehen!

Fritz Mühlemann weiss, woher er kommt. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Er wandert vom Tal hinauf, lässt seinen Blick nach innen und aussen schweifen, in die Landschaft, die Erinnerungen und das, was der Autor über ein Leben lang an Wissen und Geschichte(n) gesammelt hat.

 

Föhn.Sturm

die Vorfahren kommen und gehen
die Verhältnisse sind unübersichtlich
man sucht nach einer Lichtung
hilft sich mit Volksweisheiten
über Orientierungslosigkeit hinweg

mein Blick schweift über das Bödeli
das behäbig Heimat verspricht
zum Greifen nah legen sich mir die Firne
silbern verklärt ins Zwischenhirn
Föhn
.
Sturm
der unergründliche Atem des Herrn
bricht aus der Stille

tobt der trockene Fallwind
über das Bödeli
deckt er Häuser und Ställe ab
entwurzelt Bäume
reisst Felsstücke los
wirft Boote auf den Seen umher

 

In «Föhn.Sturm» erzählt der Autor mit der fiktiven Geschichte seiner Berner-Oberländer-Vorfahren von der Reformationszeit bis heute zugleich ein Stück Schweizer Zeitgeschichte und die Geschichte des ‹Bödelis›.

Verschiedenste Historiker haben ihm Einblicke in die regionalen Geschehnisse verschafft und seine Imagination angeregt. Wie könnten seine Vorväter als Müller (Mühle-Männer) in Wilderswil, als Coiffeurmeister in Bönigen und Interlaken sowie als Wirt und Wirtin auf der Heimwehfluh gelebt haben? Das Bödeli übte schon lange eine grosse Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt aus. Illustre Gäste kamen hier zu Besuch: Madame de Staël 1805 zum Unspunnen-Alphirtenfest, Goethe gastierte im Rathaus Unterseen, bevor er ins Lauterbrunnental weiterreiste, Lord Byron logierte in der Taverne Interlaken, Polo Hofer irrte vom Blues verweht umher und besang sein ‹Meitschi vo Bönige am Quai›. Von Zeit zu Zeit tobt sich der Föhn stürmisch aus. Der Blick auf seinen Heimatort Bönigen regte den Autoren zum Nachdenken über Auswanderung, Heimat und Heimweh, über das Wesen von Zeit und Erinnerung an.

 

Der Blick schweift über das Bödeli

das Zugseil besteht aus hundertzwei Drähten 
und einer Kunststoffseele
die garantierte Bruchfestigkeit
bei zweiundfünfzigtausend Kilogramm 
gewährt zehnfache Sicherheit
doch die Drahtseilbahn zur Heimwehfluh 
nimmt den Betrieb erst im Mai auf

ein Kiesweg führt durchs Wäldchen
hoch zur Fluh
ich pfeife alte Schlagermelodien vor mich hin 
‚Ein Schiff wird kommen‘
‚Junge, komm bald wieder‘
bedenke vor dem Ameisenhaufen
die Sorgen der Mütter
und das Abwesen

die Emsen ein und aus
immer strebend und gelassen sich bemühn 
verschwinden in schwarze Löcher
tauchen auf aus schwarzen Löchern 
Larven Insekten Raupen Stöckchen
in den Kieferzangen

das Chaos bleibt staufrei organisiert 
tägliche Bewegung
beugt der Demenzerkrankung vor

den Abgrund zum Vater zur Mutter das Weh 
zu Füssen zwei Seen
thront die Fluh

mein Blick schweift über das Bödeli 
das behäbig Heimat verspricht
und mir doch fremd bleibt
grell leuchtende Farben
der Ruf der Ahnen 
feudale Schlösser 
Landsitze 
Trauben
Feigen

 

„Föhn.Sturm“ ist ein illustrierter Weg durch die Zeit mit Fotos/Bildern von Fritz Mühlemann, Fotografien aus dem Familienarchiv des Autors, Bildern aus dem Oberländer Volksblatt, aus Geschichtsbüchern, verschiedenen Archiven und Sammlungen, Postkartenbilder von Interlaken und der Heimwehfluh anfangs des 20. Jahrhunderts, wunderbar gestaltet von Anna Neurohr.

„Was für ein reiches, von Einfällen, Farben, Geschichten überquellendes Buch! Fritz Mühlemann erzählt die Geschichte seiner Vorfahren und die des ‹Bödelis›in vielen Tonarten, manchmal fantasievoll, manchmal dokumentarisch, oft hintersinnig und verschmitzt. Man kann blättern, sich festlesen, staunen.“ Lukas Hartmann

Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin, 2024, 176 Seiten, CHF ca. 38.90, 978-3-907262-57-3

Fritz Mühlemann wurde 1950 in Bern geboren. Er ist Fotograf, Schriftsteller, Psychologe, Rentner und Traumwanderer mit Heimatort Bönigen auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee. Über die Jahre hat er zahlreiche Ausstellungen realisiert und Bücher veröffentlicht, unter anderem den Wiener Roman «dort wohnen die Narren» (edition clandestin, 2015), eine Spurenmontage aus Fotografien und Prosagedicht oder «kein ort aber krähengelächter», (Dendron Verlag, 2015), eine Sammlung, die Bilder und Texte vereint, die im Austausch mit Romie Lie entstanden.

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Beitragsbild © privat

Frédéric Pajak «Ungewisses Manifest 1», edition clandestin

Was eben erst in deutscher Übersetzung bei einem kleinen Bieler Verlag herausgekommen ist, soll der erste Teil eines neunteiligen Werks werden. Die edition clandestin verlegt belletristische Werke in Kombination mit Fotos, Zeichnungen und Illustrationen. Mit Sicherheit ein aufwändiges und kostspieliges Unternehmen, das dafür einen Bücherliebhaber wie mich umso mehr in Verzückung bringt.
Was Frédérik Pajak schuf, ist kein Roman, keine Geschichte, auch kein Graphic Novel. Ich als Leser muss mich einlassen in dieses aussergewöhnliche Buchprojekt, das mäandert zwischen essayistische Gedanken um Vergangenheit, Politik, Stationen aus dem Leben des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamins uPoster20 3nd tagebuchartigen Notizen und Erinnerungen mit den Augen des Schriftstellers und Zeichners Frédérik Pajak. Walter Benjamin, der zu Beginn des 2. Weltkriegs vor der faschistischen Welle flieht, aber nirgend mehr Ruhe findet, vielleicht noch am ehesten auf der Mittelmeerinsel Ibiza, die damals noch weit weg war von der Tristess eines verschandelten Touristeninsel. Walter Benjamin war verzweifelt, allem beraubt, nicht zuletzt seiner Hoffnung.
Aber ebenso stark wie die Texte sind die Tuschzeichnungen, die als Tafeln über den Texten stehen, machmal illustrierend, manchmal klärend, manchmal wie eine Assoziation. Frédérik Pajak nimmt mich mit in seine Welt, seine Gedankenwelt. Ein Buch, das ich mir in kleinen Portionen schenke, ein Bilderbuch für Erwachsene, mit Bildern, die sich einbrennen und Texten, die neugierig machen.

Frédéric Pajak, geboren 1955 bei Paris, Franzose und Schweizer. Autor, Künstler und Verleger. Seine Bücher, für die er zahlreiche Preise bekam, 2014 Prix Médicis, 2015 Schweizer Literaturpreis, kombinieren Zeichnung und Text. «Ungewisses Manifest 1» ist der erste Band eines insgesamt neunteiligen Werks, welcher erstmals in deutscher Übersetzung erscheint.

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