Sprachsalz 2025 – das Salz in der Ursuppe der Literatur

Was ist für sie das Salz in der Suppe? Für die einen mag es der Erfolg im Beruf sein, die Anerkennung, der Applaus, für andere die Momente der Verzückung, das fluide Glück, oder die Begegnung mit Menschen, bis zur Unmittelbarkeit. Sprachsalz, ein grossartiges Literaturfestival in Kufstein im Tirol bietet an drei Tagen die Gelegenheit, der Literatur so nahe zu kommen, wie sonst kaum: Einzige Voraussetzung; man muss sich aufmachen.

Dacia Maraini, eine der Grossen der italienischen Literaturszene, eine unermüdliche Kämpferin, nicht nur in der Literatur mit ihrem Buch „Ein halber Löffel Reis“, ein autobiographischer Roman über ihre Gefangenschaft als Kind zusammen mit ihrer Familie in einem japanischen Internierungslager während des zweiten Weltkriegs oder die japanische Autorin Mieko Kawakami, von deren deutscher Erstveröffentlichung „Brüste und Eier“ der japanische Grossmeister Maruki Murakami meinte So grossartig, dass es mir den Atem raubt oder der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, der 2022 mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sein Heimatland verlassen musste und seither in Berlin lebt und mit blitzgescheiten und scharfzüngigen Büchern wie „Der grosse Gopnik“ zu Lebzeiten Putins wohl nie mehr einen Fuss in sein Heimatland setzen kann – um nur drei von einer langen Liste grosser Namen aufzuzählen. Wie jedes Jahr glänzen die internationalen Literaturtage in Kufstein im Tirol mit einem überzeugenden Mix aus grossen Namen, wichtigen Themen und Autorinnen und Autoren, denen die grosse Bühne endlich die Gelegenheit bietet, sich einem breiteren Publikum zu zeigen.

Mieko Kawakami © Yves Noir / Sprachsalz

Wer die Liste aller bisher ins Sprachsalz eingeladener Künstler*innen liest, ist schwer beeindruckt. Da findet sich fast alles, was ein literaturinteressiertes Herz in Wallung bringt. Erstaunlich, was das Team um den Festivalgünder, Autor, Komponist und Musiker Heinz D. Heisl seit fast einem Vierteljahrhundert aus dem Boden stampft; ein Fest der Literatur, ein Tummelplatz für all jene, denen die Literatur, das Buch, die Kunst, die Musik Türöffner zu etwas viel Grösserem sind, zu einer Welt, die all jenen verborgen bleibt, die bloss im Hamsterrad des Alltags rennen. So sehr sich der Inn in Kufstein von seiner abweisenden, distanzierten Seite zeigt, einem bewusst wird, wie bedrohlich gefährlich dieses milchig weisse Wasser werden kann, wie hoch die Mauern zu seiner Bändigung sind, so nah wird mir die Kunst, die Welt aus Leidenschaft, Poesie und Erzählkunst im Kultur Quartier, einer Festivallocation, die alles bietet, was ein Festivalpublikum braucht; stimmige Räume, in denen man sich dem Sound der Sprache hingeben kann, ein Festivalzentrum für Begegnungen, Gespräche, ganz nah einem leckeren Kaffee, einem guten Glas Wein. Da sitzt sogar einer an einer kleinen Hermes Reiseschreibmaschine und schreibt, tippt mit grünem Hut und seinem Zeigerfinger. Marco Kerler, Dichter aus Deutschland, schenkt jedem, der sich auf den Stuhl neben ihn traut, ein Poem, ein Gedicht, ein Unikat, witzig, hintersinnig, kitschig, romantisch, um es nachher, eine Treppe tiefer vor der Linse festzuhalten. Da wird Literatur zu einem Stück von mir. Ich nehme sie nicht nur in meinem Herzen mit nach Hause, sondern mir fast unmittelbar auf den Leib geschnitten.

Franz Hohler © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

Wie ich ihn mag, den alten Mann, der mittlerweile leicht gebeugt, die Bühne besteigt und mit dem Alter ein sympatisches Weilchen braucht, bis er wie immer kluge Antworten gibt. Nicht nur für Schweizer ist Franz Hohler ein beinah kulturhistorisches Urgestein. Wenn er hinter dem Stehpult seine Geschichten vorträgt, dann strahlen Gesichter wie die von Kindern. Man applaudiert aus purer Freude. Franz Hohler ist ein Geschenk. Auch wenn sich der Künstler als Kaberettist zur Ruhe setzte: er weiss, wie er seine Texte in Szene setzen, wie es sich selbst als Instrument seinem überaus aufmerksames Publikum zuwenden muss.

Durs Grünbein © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

So ganz anders der Sprachkünstler Durs Grünbein, schon vor 30 Jahren mit dem bedeutensten Preis der deutsprachigen Literatur geehrt, dem Georg-Büchner-Literaturpreis, mit seinem Dresden-Epos „Der Komet“, einem Erinnerungsroman an seine Grossmutter, die die Vernichtung der Stadt im Februar 1945 erleben musste. Die Geschichte einer jungen Frau, die hoffnungsvoll in die grosse Stadt zieht, den Mann fürs Leben findet, um unter den amerikanischen Bomben, die die Stadt in Schutt und Asche legen, ihr Leben in Trümmern sieht. Ein Roman, der angesichts der Weltlage aktueller nicht sein kann.

Johan Harstad © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

Johan Harstad besuchte Kufstein mit seinem fast 1200 Seiten schweren Roman „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, ein Schwergewicht der norwegischen Literatur, ein Roman zwischen den Zeiten, zwischen Coming-of-Age und Agenten- und Wissenschaftsgeschichte, ein Roman vom ganz Grossen und ganz Kleinen. Schade, dass am Festival auf der Bühne nicht mehr diskutiert und ausgetauscht wurde. Nicht nur den Besucher*innen des Festivals hätte sich noch viel mehr erschlossen. Auch den eingeladenen Künstler*innen wäre diese Auseinandersetzung mit ihren Büchern zu gönnen gewesen.

Weitere Gäste waren die vielfach ausgezeichnete Dichterin und Romanautorin Ulrike Draesner, Yannic Han Biao Federer mit zwei berührenden Romanen über Verlust, Hanspeter Düsi Künzler mit einem Roman zwischen Nikotin und Soul, der Wörterfabrikant und Vokabeljongleur Stephan Tikatsch und die Dichterin und bildende Künstlerin Erika Wimmer Mazohl.

Matthias Schönweger © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

Der Südtiroler Matthias Schönweger, Aktionskünstler, Sprachjongleur, Literaturperformer beschliesst das diesjährige Festival. Ein Mann, dessen Leben ganz Kunst ist, dessen Aufritte jedesmal Inszenierung sind, der mit jeder Faser verspielte Lebensfreude ausstrahlt, dessen Bücher zu Kunstwerken, Nachzeichnungen seiner Gedankenwelt, Spielwiese seiner grenzenlosen Fantasie sind. Ein Mann, dem ich schon in seiner Heimatstadt Meran begegnete, dessen Herzlichkeit und Nähe sich unauslöschlich einbrannte. Sprachsalz zeigte den Film «MENSCH, msch!», der Einblicke in sein Schaffen, seine Archive und seine Denkbewegungen gewährt. Matthias Schönweger ergänzt mit einer seiner legendären Performances.
Sprachsalz 2025 war ein Ereignis! Mit viel Leidenschaft perfekt organisiert, volle Säle, zufriedene Gesichter. Ein prickeldes Vollbad in der Literatur. Schon jetzt ein Fixpunkt in meinem Kalender für den Frühherbst 2026.

Danke!

Viktor Jerofejew © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

Titelfoto: Dacia Maraini © Denis Moergenthaler / Sprachsalz

Sprachsalz – Internationale Tiroler Literaturtage in Kufstein

Vom 12. bis 14. September 2025 wird Kufstein erneut zum Zentrum internationaler Gegenwartsliteratur. Die 23. Ausgabe des Literaturfestivals Sprachsalz bringt Autor*innen aus Japan, Italien, Norwegen, Russland, Deutschland, der Schweiz, Großbritannien und Österreich zusammen – mit Texten über Herkunft und Verlust, über Körper und Krieg, über Kindheit und Diktatur. In ihren Büchern spiegeln sich persönliche Schicksale und politische Abgründe, poetische Grenzgänge und erzählerische Wucht.

Zu den Höhepunkten zählt die deutschsprachige Buchpremiere der gefeierten japanischen Autorin Mieko Kawakami oder der Auftritt des vielbeachteten norwegischen Autors Johan Harstad mit seinen 1000-Seiten-Romanen. Franz Hohler bringt seine zeitlosen Alltagsbeobachtungen mit und liest auch für Kinder. Viktor Jerofejew erzählt über Despoten, Yannic Han Biao Federer vom Erinnern in einer zerrissenen Welt, Dacia Maraini von ihrer Kindheit im Internierungslager. Eric Goulden / Wreckless Eric und Hanspeter Düsi Künzler führen in das London der Pubs, Musik und Marginalität. Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein stellt in seinem aktuellen Roman die Frage, was die Diktatur aus Menschen macht, und liest natürlich auch aus seinen Gedichtbänden.

Die Lyrik ist 2025 stark vertreten – durch Stephan Tikatsch, Ulrike Draesner, in der Doppelrolle als Lyrikerin und Romanautorin, und Marco Kerler, der während des Festivals auf Bestellung Gedichte für die Besucher*innen schreibt.

Am Samstagabend steht der große Saal des Kultur Quartiers wie stets im Zeichen von Literatur und Kulinarik: Der traditionelle Sprachsalz-Festabend vereint herausragende Literatur mit einem mehrgängigen Menü. Hauptact ist in diesem Jahr die Autorin Mieko Kawakami, die aus ihrem neuen Roman «Das gelbe Haus” liest – ein kraftvoller Text über Körper, Herkunft und Widerstand. Serviert wird ein sorgfältig komponiertes Essen, zubereitet von der vielfach beachteten Küche des Restaurants Alpenrose Kufstein (nur mit Reservierung).

Sprachsalz bleibt seinen Prinzipien treu: eintrittsfrei und interkontinental. Ob Debüt oder Weltliteratur – das Programm ist handverlesen, neugierig und offen.  Die Übersetzungen von fremdsprachigen Texten werden von bewährten deutschen Stimmen vorgelesen, so etwa der Schauspielerin Brigitte Zeh, Regisseur und Schauspieler Ernst Gossner als auch erstmalig vom Münchner Schauspieler Jürgen Tonkel.

Alle Autor*innen beim Festival 2025:

Ulrike Draesner (Deutschland)
Sprachmächtige Erzählerin, Lyrikerin und Essayistin. In «Die Verwandelten» folgt sie den Spuren weiblicher Erinnerung und historischer Gewalt. Literarisch kühn und mit analytischer Präzision.
Mich interessiert die Verbindung von Sprache und Körperlichkeit. (aus: Interview mit Deutschlandfunk Kultur, 2022)

Yannic Han Biao Federer (Deutschland)
Seine raffiniert konstruierten Romane kreisen um Herkunft, Verlust und Trauer. In «Für immer seh ich dich wieder» verarbeitet er autofiktional einen Verlust, der eigentlich nicht zu fassen ist: den Tod seines ungeborenen Sohnes.
Ich gehe hinunter, und da, wo das Schwarz beginnt, wo ich das Wasser vermute, rührt sich nichts […] als könnte das Schwarz aus seinem Bett steigen und mich hineinziehen. aus: «Tao»)

Eric Goulden / Wreckless Eric (Großbritannien)
Musiker, Singer-Songwriter und Autor. In seiner Autobiografie schildert er mit wütendem Humor vom Überleben im Musikgeschäft, von Euphorie und von Abstürzen.
Ich war mir nicht sicher, wie ich aufhören sollte, aber jemand sagte zu mir: Du musst einfach stoppen. (aus: «A Dysfunctional Success – The Wreckless Eric Manual»)

Durs Grünbein (Deutschland)
Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Präzise und mit melancholischem Ton verbinden seine Gedichte Wissenschaft, Geschichte und Wahrnehmung. In Kufstein wird er außerdem aus seinem aktuellen Roman «Der Komet» lesen.
Wenn ich mich recht entsinne, fing bei mir alles mit einem Geräusch an, einem keineswegs harmlosen Geräusch, eher schon einer akustischen Irritation. (aus: «Vom Stellenwert der Worte»)

Johan Harstad (Norwegen)
Mit «Max, Mischa & die Tet-Offensive» und «Unter dem Pflaster liegt der Strand» wurde er zur internationalen Stimme der Überforderung. Welt- und zeitumspannende Romane sind sein Markenzeichen, wahrhafte Großformate mit Tiefgang.
Es gibt keine Helden, es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen ihr Bestes zu geben. (Aus: «Max, Mischa & die Tet-Offensive»)

Franz Hohler (Schweiz)
Schriftsteller für Groß und Klein, Kabarettist, Wanderer. Seine Texte über den Aberwitz des Alltags, aber auch Romane und Kinderverse sind seit Jahren Kult – auch auf der Bühne.
Jetzt mache ich ein Jahr lang Auftritte und schreibe […] und dieses Jahr dauert bis heute. (aus: Interview mit Blick)

Viktor Jerofejew (Russland/Deutschland)
Einer der wichtigsten russischen Autoren im Exil. In «Der große Gopnik» beschreibt er das heutige Russland als düsteres Märchenland in Auflösung, beherrscht durch den «Gopnik», eine Figur, deren Namen im Deutschen ungefähr so viel bedeutet wie «rowdyhafter Hinterhofproll»
Bisher war Dummheit ein rührendes Phänomen […] jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen. (aus: «Der große Gopnik»)

Mieko Kawakami (Japan)
Radikal sanft, gesellschaftlich hellsichtig und poetisch – Kawakamis Literatur gibt jenen eine Stimme, die selten gehört werden. In Kufstein stellt sie exklusiv ihren neuen Roman in deutscher Übersetzung vor (Katja Busson).
Wir sagen oft, der Tod sei endgültig, aber ich kann mir nicht helfen, die Geburt ist es auch. (aus: Interview mit The Guardian)

Marco Kerler (Deutschland)
Der Dichter wird mit seiner Schreibmaschine während des Festivals allen, die mögen, ein Gedicht schenken. Frisch getippt und auf Zuruf: Ein Gedicht für Dich. und ein Festivalmoment, der bleibt.

Hanspeter Düsi Künzler (Schweiz)
Popchronist, Musikjournalist, Erzähler: In «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke» fängt er das Leben am Rand ein – poetisch, tief, mit Nikotin und Soul.
Sonntagmorgen. Die Kneipe war voll, der Zigarettenrauch hing tief. (aus: «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke»)

Dacia Maraini (Italien)
Eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens. In «Ein halber Löffel Reis» erzählt sie ihre Kindheit im japanischen Internierungslager – erschütternd und hell zugleich.
Um sich zu erinnern, ist es nötig, die eigene Vergangenheit zu lieben und daher auch sich selbst. (aus: «Die Blonde, die Brünette und der Esel»)

Matthias Schönweger (Italien)
Aktionskünstler, Sprachjongleur, Literaturperformer. Sein Leben ist Kunst, Kunst ist sein Leben und seine Auftritte jedes Mal ein Ereignis. Sprachsalz zeigt den Film «MENSCH, msch!», der Einblicke in sein Schaffen, seine Archive und seine Denkbewegungen gewährt. Matthias Schönweger ergänzt mit einer seiner legendären Performances.
Frischer Wind kam auf / Das Blatt / hat sich gewendet / ohne mein Zutun. (aus: «Gebucht. Teil 2»)

Stephan Tikatsch (Österreich)
Lyriker, Herausgeber, Wortschöpfer. Zwischen Slapstick und Sprachkritik, ein sorgsamer Wörterfabrikant und Vokabeljongleur.
Vorher war alles normal / Dass ich nicht lache / Und nie laut. (aus: «Dyspujaka»)

Erika Wimmer Mazohl (Österreich)
Die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin entwirft in ihrem Roman «Wolfs Tochter» ein mehrperspektivisches und poetisches Porträt über das Leben der Friedensaktivistin Erika Dannebergs, über Erinnerung, Widerstand und weibliche Selbstbehauptung.
Die Schneebotinnen flüstern es ihr zu: Der nächste Tag wird einen neuen Glanz in ihr Leben bringen […] (aus: «Wolfs Tochter»)

(Pressetext)

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad