Martin Prinz «Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote», Plattform Gegenzauber

Er habe sie gefragt, ob mit Frau Habietinek nun eine Ruhe sei, da er von ihr gewusst habe, dass sie mit Habietinek schon einige Male Streit gehabt hätte. So gab die 33-jährige Maria Spuller ein Gespräch mit dem Bäcker S. während der Vorerhebungen zum Volksgerichtsprozess über die NS-Morde zwischen Rax und Schneeberg zu Protokoll. Das sei noch im März gewesen. Sie habe ihm geantwortet, dass es jetzt ganz gut gehe mit der Habietinek. Darauf habe S. gesagt, sie werde auch einmal Ruhe haben, denn nun laufe die Sache. Auf ihre Frage, welche Sache dies sei, konnte er das nicht sagen.

Als am 1. April die Rote Armee das Viadukt in Payerbach erreichte, war der Krieg in der Gegend zwischen Schneeberg und Rax vorbei. Die Rote Armee kontrollierte die Südbahn, hielt die Stellungen der Wehrmacht an den Abhängen von Schneeberg und Rax beschäftigt und fror die Front ein. Alles an Truppen, Logistik und Feuerkraft diente nun der Einnahme Wiens, die am 12. April gelang, sowie der Eroberung einer Pufferzone im Flach- und Hügelland westlich des Wienerwaldes, die man am 15. April 1945 mit der Besetzung St. Pöltens hergestellt hatte. Der Krieg war entschieden, auf weitere militärische Gefahren und Verluste konnte verzichtet werden. Im Schatten der Berge blieben die idyllischen Ortschaften Hirschwang, Edlach, Prein, Schwarzau und das nur eine leichte Straßenbiegung von dem Payerbacher Viadukt entfernte Reichenau als sich selbst überlassener Rest des NS-Staates übrig, in dem alles so weiterging, als wäre nichts geschehen.

Es sei am Ostermontag gewesen, dem 2. April 1945, als es geheißen habe, dass die Russen in Edlach seien, gab die Hausgehilfin Marianne Janscho an. Nachts habe es auf einmal heftig geklopft. Damals seien sie mit den Kleidern in den Betten gelegen. NS-Ortsleiter Plechard sei in Begleitung von noch anderen Männern herein und habe Frau Habietinek angeherrscht, ob sie glaube, sie könne machen, was sie wolle, nur weil sie Frau Hofrätin sei.
Daraufhin sei er gleich in den ersten Stock, sagte der 73-jährige Dr. Fritz Habietinek in seiner Zeugeneinvernahme, und habe die weiße Fahne eingezogen, die man wie andere bereits gehisst habe. Als er wieder heruntergekommen sei, seien die Männer wieder fort gewesen und seine Frau habe ihm vor Angst bebend mitgeteilt, der Ortsleiter habe ihr vor dem Verlassen des Hauses zugerufen, sie werde die erste sein, die man erschieße.
Warum Plechard diese Drohung gegen Frau Habietinek gemacht habe, fügte Marianne Janscho ihrer Aussage noch hinzu, wisse sie nicht. Danach seien sie alle, Herr und Frau Habietinek sowie die 10-jährige Enkelin, die aufgrund der Bombengefahr in Wien hier bei ihren Großeltern lebte, in die Steiermark geflüchtet, nach drei oder vier Tagen jedoch wieder zurückgekehrt. Marie Habietinek sei bald darauf von jungen SS-Männern geholt und nach Schwarzau im Gebirge gebracht worden, von dort sei sie am zweiten Tag wieder zurückgekommen. Dann sei sie erneut geholt, krankheitshalber aber wieder entlassen worden. Schließlich nahm man sie ein drittes Mal mit, um sie dann im Keller des Hotel Kaiserhof, dessen Pächter der genannte Plechard gewesen sei, zu erschießen.

Was sich zwischen Schneeberg und Rax in diesen fünfeinhalb Wochen abspielte – illegale Standgerichtsmorde, Verschleppungen und Erschießungen – wird in Medien wie Geschichtswissenschaft so gut wie immer als Endphaseverbrechen bezeichnet, und damit erneut verniedlicht. Bereits in den 50er-Jahren erlaubte die deutsche Justiz für derart bezeichnete Verbrechen, die unter dem Einfluss außergewöhnlicher Verhältnisse verübt worden wären, Strafmilderung oder gar Straffreiheit. Was in jenen Ortschaften und Kurgemeinden, die aufgrund ihrer Sommerresidenzen neben bäuerlicher Bevölkerung und der Handwerker- und Industriearbeiterschaft, Dienstleistungsgewerbe, Akademiker, Adlige, Militärs und Superreiche versammeln und damit einen breiten soziologischen Querschnitt nicht nur des gesamten Landes, sondern auch dessen Geschichte abbilden, in diesen letzten fünfeinhalb Wochen vor Ende des Nationalsozialismus wirklich geschah, war in den Verhältnissen einer nationalsozialistischen Gesellschaft nicht außergewöhnlich, sondern eine bis heute gültige Probe auf deren Exempel.

Marie Wammerl, aus der Besitzerfamilie des von Ortsleiter Plechard gepachteten Hotel Kaiserhof, sagte in ihrer Zeugenvernehmung als einzige Überlebende der zuerst im Eggl-Keller eingesperrten und im Kaiserhof erschossenen Frauen aus, es sei anzunehmen, dass Plechard, S. und Irschik bei der Aufstellung der Listen der Todeskandidaten mitgewirkt hätten. Und S., der ein intimer politischer Mitarbeiter von Ortsleiter Plechard gewesen wäre, sei gemeinsam mit diesem nach dem Einmarsch der Roten Armee auch aus Prein geflüchtet.
Weder mit Irschik noch mit Plechard habe er sich darüber besprochen, wer erschossen werden solle, auch habe er von den Erschießungen nur gerüchteweise erfahren. So verantwortete sich S., nachdem er am 28. Dezember 1945 von der Kriminalabteilung Bruck/Mur festgenommen worden war. Plechard habe er zwar gekannt, was dieser in der Partei gewesen sei, habe er nicht genau gewusst, vielleicht Zellenleiter. Wie in der Nachbarschaft üblich, sei er mit Plechard gut gewesen. Dass dieser ein scharfer Nationalsozialist gewesen sei, könne er nicht sagen. Auch dass alle Hingerichteten ausgesprochene Antinationalsozialisten gewesen seien, könne er nicht bestätigen, räumte nur bei Frau Eggl ein, dass sie öfter geschimpft habe, wüsste aber nicht, was Frau Habietinek vorgeworfen worden sei, auf die er nicht schlecht zu sprechen gewesen gewesen wäre, wie er eigens hinzufügte.
Als ihm die Aussagen Maria Spullers vorgehalten wurden, er habe ihr vor der Erschießung Marie Habietineks angegeben, sie werde von Habietinek bald eine Ruhe haben, und sich danach noch eigens bestätigen habe lassen, dass sie jetzt wohl eine Ruhe vor der alten Kanaille habe, gab S. zwar auf einmal zu, dass er selbst Zellenleiter im Ort gewesen sei, tat dies jedoch nur, um damit zu erklären, dass er Spullers Beschwerde dem Plechard weitergegeben habe, von dem er nun plötzlich wusste, dass dieser der NS-Ortsleiter gewesen sei.

Wie lebt die Gewaltgesellschaft eines Staates weiter, wenn der Staat ringsum immer weiter verschwindet? Die Antwort darauf wurde ab dem 1. April 1945 zwischen Schneeberg und Rax gegeben: Alte Rechnungen wurden beglichen, Neid oder Nachbarschaftsstreit mündeten in Denunziation. Innerhalb weniger Tage füllten sich die Listen. Vor allem Frauen standen darauf, das war das eine. Das andere waren die Patrouillen der Sonderkommandos auf der Suche nach Männern, die sich vor dem Volkssturm versteckten. Sie wurden festgenommen und vor ein Standgericht gestellt, dessen Besetzung selbst nach NS-Recht illegal war, wurden abgeurteilt, erschossen, geschändet und mit ihren malträtierten Körpern über Tage an den Stellen im Ort aufgehängt, wo alle vorbeikamen. Die Frauen hingegen, und die Alten, erschoss man heimlich in Kellern und vergrub sie nachts in schnell ausgehobenen Gruben.

Ein Sonderkommando habe seine Frau verhaftet und sie in das Kellerzimmer des Postgebäudes gesperrt, in dem sich auch die Hausbesitzerin Eggl bereits unter den Eingesperrten befand, berichtete Herr Habietinek. Sowie Marie Wammerl, deren Mann erst eine Woche davor in Schwarzau erschossen worden sei. Ein Gendarm habe ihm gestattet, seiner Frau mittags und abends Essen zu bringen. Während sich Marie Wammerl als Zeugin nicht mehr ganz sicher war, wer sich schon dort befunden habe, als man sie in den Keller des Postgebäudes gebracht habe, jedenfalls sei eine ältere Frau dort gewesen, von der sie erst später erfahren habe, dass es Frau Habietinek war. Dann Frau Eggl, Frau Frindt aus Edlach, das Ehepaar Karasek, Frau Reifböck, und Frau Fischer sowie die Schwestern Waissnix und womöglich noch eine andere Frau. Der Raum sei auch tagsüber verdunkelt gewesen. Zur Verrichtung der Notdurft sei ihnen ein nicht gedeckter Kübel für Frauen und Männer in den Raum gestellt worden, der einen furchtbaren Gestank verbreitet habe.
Als er am dritten Tag zu Mittag mit dem Essen hingekommen sei, schilderte Habietinek, habe er die Tür versperrt vorgefunden. Er sei zu Ortsgruppenleiter Plechard gegangen, um zu fragen, was mit den verhafteten Frauen geschehen sei, worauf dieser ihm antwortete, die wären in der Früh mit einem Auto zum Kriegsgericht gebracht worden. Diese Meldung habe ihn beruhigt, da er wusste, dass gegen seine Frau nichts vorliege.
Zwei, drei Tage, nachdem alle Nazis bereits geflüchtet gewesen seien, habe ein Freund, der auch in der Prein wohnte, zu ihm gesagt, es wisse schon die ganze Prein, aber niemand traue sich, es ihm zu sagen, dass seine Frau bereits am dritten Tag ihrer Verhaftung erschossen und von Plechard eigenhändig in eine Grube geworfen worden sei.

Wie etliche Zeugen den Behörden bestätigen könnten, sagte S., sei er seit Anfang April ständig im Dienste des Volkssturms gestanden, und zwar in Hirschwang, wie er in jeder Befragung angab, als handelte es sich um ein Alibi. Erst am 29. April sei er angewiesen worden, als Volkssturmmann in die Prein zu fahren und für den dortigen Volkssturm Brot zu backen. Das habe er dann auch bis zum 5. Mai gemacht. Am 8. Mai sei die Rote Armee nach Prein einmarschiert. Erst Ende Juli oder August habe er dann in Bruck/Mur erfahren, dass in Prein vor dem Zusammenbruch mehrere Personen erschossen worden seien. Wohl habe er noch vor dem Zusammenbruch, als er Brot gebacken habe für den Volkssturm, in Prein über irgendwelche Erschießungen munkeln gehört, aber nichts Näheres erfahren.

Wozu sich Hitler im März 1933 von der demokratisch gewählten Volksvertretung noch alleine ermächtigen hatte lassen, war schließlich weit genug durch die gesamte Gesellschaft gedrungen, dass sie bis in ihre kleinsten Glieder sich das böse Geschäft von Unsicherheit, Bestrafung, Angst, Denunzierung und auch Mord als Ermächtigungsgesellschaft selbst besorgte. Am Ende funktionierte das so gut, dass nicht nur für die Opfer kein Entkommen mehr war, sondern auch die Täter passgenau verkörperten, was sie aus sich gemacht hatten. Sie hörten nicht einmal auf, als ringsum der Krieg bereits entschieden war. Zwang brauchte es dafür längst nicht mehr. Ihre Wahl zwischen Gut und Böse hatten sie gehabt, sie getroffen und nun blieben sie mit wenigen, viel zu wenigen Ausnahmen bis zum Ende an ihrem Platz im Getriebe, oft genug sogar darüber hinaus. Nahtlos funktionierte diese Mechanik selbst in den letzten Tagen noch. Kein Wunder, dass für die Morde an den Frauen und Alten in den Kellern niemand schuldig gesprochen wurde. Die einzelnen, die hier so lange wie möglich mordeten, denunzierten, verdeckten und schwiegen, waren darin als Gesellschaft aufgegangen.

Nur die 34-jährige Marie Landskorn, Mutter von vier Kindern und jüngste der 26. April 1945 im Eggl-Keller noch Eingesperrten, zählte am Vormittag dieses Tages weder zu den sechs über die Straße in den Kaiserhof geführten und dort erschossenen Frauen noch befand sie sich unter den später aus einer Grube neben dem Preiner Friedhof ausgegrabenen Leichen. Obwohl vor dem Volksgericht mehrere Zeugen bestätigten, dass Landskorn sich im Keller befunden habe, blieb sie verschwunden. Bis eine ihrer Töchter im Gasthaus Schiffauer, wo sie im benachbarten Nasswald als Dienstmädchen gearbeitet hatte, von einem betrunkenen Holzknecht, der dort Stammgast gewesen war, bedrängt wurde. Als der Mann ihren Namen erfuhr, konnte er offenbar nicht an sich halten und rühmte sich, 1945 gemeinsam mit einem anderen ihre Mutter getötet zu haben. Als von der Gendarmerie an der von ihm angegebenen Stelle gesucht wurde, fand man tatsächlich eine Frauenleiche. Doch anhand von Kopf, Knochenstücken, Resten von Kleidern und eines Teppichstückes habe die Großmutter des Dienstmädchens keine klärenden Feststellungen treffen können, zudem sei ihr von den Behörden nahegelegt worden, die Sache nicht weiter zu verfolgen.

Karl S. schließlich war seit dem 30. Juli 1945 wegen «Teilnahme an Mord» vom Gendarmerie-Hochgebirgsposten Prein steckbrieflich gesucht worden. Ausgerechnet der am 14. November dieses Jahres aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Sohn der ebenfalls im Keller des Hotel Kaiserhof erschossenen Johanna Eggl traf ihn dann auf der Heimreise in einem Bäckerbetrieb in Bruck/Mur an, weshalb S. am 28. Dezember 1945 ebendort verhaftet wurde.
Im Volksgerichtsverfahren gegen die Hauptverdächtigen der NS- Mordgeschehnisse im Gebiet zwischen Rax und Schneeberg führte man ihn danach als Zeugen, da sein eigenes Verfahren wie auch jenes gegen den Gendarmen Irschik mit 17.10.1946 abgetrennt worden war. Per 7.11.1949 stellte man das Verfahren gegen S. aufgrund Erklärung der Staatsanwaltschaft, es bestehe kein Grund mehr zur weiteren gerichtlichen Verfolgung, gänzlich ein.

Er habe die Mutter dieses Mädchens umgebracht, musste der Holzknecht im Gasthaus sagen. Und Karl S. fügte vor dem Volksgericht eigens hinzu, er selbst sei auf Frau Habietinek nicht schlecht zu sprechen gewesen! Beide scheinen sie die Namen ihrer Opfer im Mund gebraucht zu haben, um nicht doch daran zu ersticken. Und wie ist das mit ihren Mitwissern, mit den Zeugen oder dem mutmaßlichen Mittäter im Fall Marie Landskorn? Wie ist das in all den Familien, jenen der Opfer, jenen der Täter, der Mitwisser und der anderen Schweigenden? In all den Ortschaften im Schatten der Berge.

Anmerkung des Verfassers: Am Abend des 24. April 2025 läutete bei mir das Telefon mit einer unbekannten Nummer aus den USA. Eine unverkennbar wienerische Stimme am anderen Ende und ein Name, den ich von einem Gespräch mit jemand anderem seit der Lesung in Reichenau bereits kannte. Die Stimme gehörte einer direkten Verwandten Marie Habietineks. Sie hatte die «Die letzten Tage» bereits zum zweiten Mal gelesen und wir redeten lange, es gab viel zu erzählen. Ganz am Ende fragte sie mich, ob ich mit ihr zu den Akten im Wiener Stadt- und Landesarchiv gehen wollte. Denn das einzige, das sie über den Mann wüsste, der damals Marie Habietinek denunziert hätte, sei dessen Beruf. Ich sicherte ihr meine Begleitung noch in derselben Sekunde zu, in der sie dessen Berufsbezeichnung bereits genannt hatte. Ich als Schreiber hatte wohl auf ganz ähnliche Weise wie sie als Leserin aus meinem Buch verdrängt, wie die Berufsbezeichnung jenes Mannes S. lautete, der bis an sein Lebensende in Prein an der Rax gelebt und auf demselben Friedhof wie Marie Habietinek bestattet worden war: Bäcker.

(erstmals veröffentlicht in «Die Presse»)

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die letzten Tage» mit Interview («Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote» ist ein Folgetext dessen.)

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung

Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.

Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.

Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.

Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.

Aktendeckel © Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht

Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.

Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.

Interview

Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?

Prozessberichterstattung, Urteile © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, Weltpresse, 25.05.1947

Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam. 

Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht. 

Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.

Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?

Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.

Die Baracken des Reichsarbeitsdienstlagers (kurz RAD-Lager) © Stadtarchiv Neunkirchen

Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?

Respekt und Notwendigkeit.

Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?

Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht.  – Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.

Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?

Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt. 

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck