Als Mélanie jung war, wäre sie am liebsten ein Star in einem der blühenden Big Brother Formate geworden. Aber man wollte sie nicht. Jahre später, zusammen mit ihren Kindern, wird sie begehrte Youtuberin mit Hunderttausenden Followern, beginnt mit einem sphärenhaften Flug ins scheinbare Glück. Bis zur Katastrophe. „Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan sticht mitten hinein.
Zugegeben, ein erstes Mal legte ich das Buch nach den ersten 30 Seiten weg. Ich hatte keine Lust, mich mit der Welt von YoutuberInnen und FollowerInnen zu beschäftigen, all dem hohlen Nachrennen um Sichtbarkeit, Anerkennung und medialer Präsenz. Vielleicht hatte ich keine Lust, weil mich das Thema als Schreiberling für meine Internetseite und Nutzer von digitalen Plattformen selber betrifft, weil es Zeiten gab, in denen ich sehr wohl mit Neugierde meine Klicks in den Statistiken meiner Webseiten „überprüfte“. Dann nahm ich das Buch doch noch einmal zur Hand, nicht zuletzt darum, weil ich Delphine de Vigan bisher stets schätzte für die Art, wie sie Themen der Zeit mit dem Personal ihrer Romane verknüpft, weil ihre Auseinandersetzung nie platt ist und sie mich stets zwingt, mich mit meiner eigenen Wahrnehmung auseinanderzusetzen.
Eine junge Frau, gekränkt in ihrem Selbstwertgefühl, mit der Angst drohender Bedeutungslosigkeit, beginnt, ermuntert durch ihren Mann, der spürt, dass seiner Frau etwas fehlt, auf den Tummelplätzen von Social Media zu spielen. Erst ganz zaghaft. Aber sie merkt, wie gut ihr all die Zeichen auf dem Bildschirm tun, immer mehr und irgendwann auch mit ihren beiden Kindern. Mit Kimmy und Sammy. Was als Spass und Beschäftigung beginnt, wird mit der Zeit zu einem Geschäft, das jeden Tag bestimmt, sieben Tage in der Woche. Was sie zu Beginn nur aus der Sehnsucht nach Resonanz tat, wird durch Verträge mit der Freizeitindustrie zum lukrativen Unternehmen. So sehr, dass Bruno, Melanies Mann, seinen Posten im IT-Bereich aufgibt und sich nur noch im Hintergrund seines medial inszenierten Familienglücks engagiert. Melanie ist glücklich. Sie und ihre beiden Kinder repräsentieren das Glück. Das Leben ist ein grosses Spiel und ihre Familie die Gewinner.
Bis alles in sich zusammenbricht. Bis Sam zu seiner Mutter kommt und erklärt, Kim, seine kleine Schwester, sei verschwunden, beim Versteckspiel im Quartier nicht mehr aufgetaucht. Melanie, von sich selbst überzeugt, die Fürsorglichkeit in Person zu sein, macht sich auf die Suche nach ihrer kleinen Tochter, irgendwann die ganze Nachbarschaft, dann die Polizei. Aber das Mädchen finden sie nicht. Es bleibt verschwunden, spurlos.
Zum Polizeiteam, das sich auf die Suche nach der kleinen Jimmy macht, gehört Clara. Eine stille, introvertierte Frau, die früh und schnell nacheinander ihre Eltern verloren hatte und sich nur mehr schwer in die Anhängigkeiten einer Beziehung traut. Claras Fähigkeiten, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden, ihre Empathie für die kleinen, unscheinbaren menschlichen Regungen, ihre Verbissenheit sich durch nichts abschütteln zu lassen, machen Clara zu einem eigentlichen Gegenpart zur haltlosen Verzweiflung der jungen Mutter Melanie. So sehr die eine den Boden unter den Füssen verliert, den klaren Blick und jede Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren, so sehr krallt sich Clara in den Fall des verschwundenen Mädchens. Bis es völlig überraschend auftaucht und klar wird, dass es nicht um Mord oder Erpressung geht, sondern eigentlich um einen blinden Rettungsversuch.
Klar erzählt Delphine de Vigan spannungsreich und clever vom Ausbeuten von Kindern im Netz, von einem Kriminalfall, der eine ganze Nation in Atem hält. Noch viel mehr erzählt die Autorin von Liebe, von instrumentalisierter Liebe, fehlender Liebe, der Sehnsucht nach Liebe. So blind die Sucht nach Publicity die Mutterliebe pervertieren kann, so blind macht Clara die Angst, verletzt zu werden. Delphine de Vigan seziert das Zuviel und Zuwenig, wie sehr die Angst der Liebe die Luft abschnüren kann.
Im letzten Teil des Romans, in nicht zu ferner Zukunft, die beiden Kinder sind erwachsen geworden, radikal von der Mutter emanzipiert, schnappt Melanie, die noch immer ihr ganzes Leben im Netz produziert und verkauft, die Meldung auf, dass ihre Tochter Jimmy sie vor Gericht verklagt.
Das Netz ist voller Bilder von Kindern. Wir wissen um die Untiefen des World Wide Web, tummeln uns aber in naiver Bedenkenlosigkeit in eben diesen Untiefen. Menschlicher Voyeurismus scheint keine Grenzen zu kennen. Ein Paradox in einer Zeit, in der alles nach Privatsphäre schreit, der Begriff der Menschenwürde inflationär verwendet wird. Delphine de Vigans Roman ist ein subtiler Griff in die eiternde Wunde einer Gesellschaft!
Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman «Dankbarkeiten» (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.
Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier, arbeitete als Sprachlehrerin, als Übersetzerin im Generalsekretariat des EG-Ministerrats und übersetzt seit 1997 Literatur, u. a. von Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Theresa Révay, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.
Beitragsbild © Francesca Mantovani Editions Gallimard