HEARTBEATS – Lesung im Gedenken an Hans Peter Gansner (1953–2021) & Ira Cohen (1935–2021)

von Florian Vetsch

„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.

Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.

herzlinie

ich habe gelesen: der daumen des prokurators
war nach unten gerichtet und eine hohle hand
wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt
während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten
errichtend das weltreich des faustrechts.
ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt
des sängers im stadion von santiago de chile
und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter
und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder
im sinternden licht des morgengrauens.
du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen
und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt
um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand
und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte
an die zellentür hinter der er erstickt.
und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen
und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich
nicht krümmen sondern ausgestreckt
vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit
seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes
bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht
die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel
im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen
händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten
und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen
eine neue und nie gekannte herzlichkeit

(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)

Webseite von Hans Peter Gansner

Wikipedia Eintrag

Viceversa Eintrag

Autoreneintrag Songdog Verlag

Interview in der Schaffhauser Zeitung

 

LAST POEM

When I have nothing
more to say
will some greater truth
come forth to fill the page
with an understanding
never experienced before?
Will the precious yellow satin
cover my thoughts & speak
of secrets hidden from my
deepest self?
After all the scratching out
will anything remain to say
that recovery follows crucifixion
that loss engenders victory
in the passing of things,
that to stand alone
is to encounter the world
and be done with it once &
                    for all

Dec 27, 2006

DAS LETZTE GEDICHT

Wenn ich nichts mehr
zu sagen habe
wird dann eine höhere Wahrheit
eingreifen, um die Seite
mit einem Verstehen zu füllen
das noch nie zuvor erfahren wurde?
Wird die kostbare gelbe Atlasseide
meine Gedanken verhüllen & von
Geheimnissen sprechen, die meinem
tiefsten Selbst verborgen sind?
Nach all dem Geschabe wird
noch etwas zu sagen bleiben
dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt
dass im Lauf der Zeit
Verluste den Sieg erzeugen
dass wer allein steht
der Welt begegnet
und damit hat sich’s erledigt, ein für
                       allemal

27. Dez. 2006

(aus Ira Cohen: „Alcazar – 17 Poems / 17 Gedichte“. Moloko Print. Pretzien 2021)

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

Ira Cohen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) 

Ira Cohen: KINGS WITH STRAW MATS (1998)

Ira Cohen im Interview 1999

The Ira Cohen Archive LLC

Florian Vetsch über Ira Cohen im Saiten

Beitragsbild (Gansner) © Helen Brügger, (Cohen) © Florian Vetsch