Colum McCann «Twist», Rowohlt

Missionschef Conway an Bord eines Reparaturschiffes für Kabelbrüche neben Anthony Fennell, der sich für eine Reportage auf diesem Schiff dem unnahbaren Missionsleiter und seiner Aufgabe annähern will. Ein Roman wie «Moby Dick». Ein Kampf zwischen einem Ahab und einer Macht, die den stillen Kämpfer in die Tiefen der Gegenwart zieht.

Man kann „Twist“ als spannenden Thriller lesen. Oder als abgeklärte Schelte gegen eine Gegenwart, die sich zumüllen lässt, sowohl mit handfestem Müll, wie mit Informationsmüll. Oder als Anklage an eine Welt, die mit jedem Tag verwundbarer wird und blind auf den letzten Abgrund zurast. Oder über einen Mann, der mit journalistischem Eifer zu verstehen versucht. „Twist“ ist aber vor allem eine unerhört gut erzählte Geschichte mit einem Twist, einer nicht vorhersehbaren Wendung, die alles zuvor in Frage stellt. 

Wir haben keine Ahnung, auf welches Chaos wir da zusteuern.

Anthony Fennell ist ein müde gewordener Journalist. Nicht nur müde in seinem Schreiben, auch müde in seinem Leben. Einem Leben, das aus dem Trott gekommen ist, von dem Fennell genau weiss, dass es einen Twist braucht, nicht zuletzt einen Sturm, um wieder auf Kurs zu kommen. Im Auftrag der Financial Times überredet er den Missionsleiter eines Reparaturschiffs für Kabelbrüche bei einer kommenden Mission mitfahren zu dürfen, nicht zuletzt darum, weil durch solche Kabelbrüche auf dem Grund des Ozeans immer und immer wieder ganze Landstriche vom digitalen Informationsnetz abgeschnitten werden und dadurch nicht nur grosse Verunsicherungen ausgelöst werden, sondern internationale Sicherheit und ein weltumfassendes Wirtschaftssystem horrenden Schaden erleiden. Solche Reparaturschiffe lauern wie die Feuerwehr auf den Alarm, um im Notfall jene Orte in den Weiten der Ozeane aufzuspüren, an denen das hochsensible Nervensystem der Welt unterbrochen ist. Von Metalldrähten und in Kunststoff eingeschweisste Glasfaserkabel, durch die alles fliesst, was an der Erdoberfläche unentbehrlich erscheint. Es sind nicht die Satellitenverbindungen, die die Informationsflüsse am Laufen halten, sondern ein viel kostengünstigeres Kabelsystem, nicht nur an Land, sondern auch durch die Tiefen des Ozeans, aber genauso verletzlich.

Ich fühle mich manchmal, als würde ich im Schneckentempo zu einem Grossbrand fahren.

Colum McCann «Twist», Rowohlt, 2025, aus dem Englischen von Thomas Überhoff, 416 Seiten, CHF ca. 39.90, ISBN 978-3-498-00385-2

Für Fennell kommt die Reportage zum genau richtigen Zeitpunkt. Sein Leben droht auseinanderzufallen, nicht zuletzt durch seinen Alkoholkonsum. Eine zeitlich ungewisse Reise mit einem Schiff, auf dem er der einzige sein wird, der als Teil der Crew nicht funktionieren muss. Eine geführte Flucht vor dem, was er geworden ist. Eine Mission, bei der es nicht zuletzt um Zeit geht, darum, möglichst schnell die Nadel im Heuhaufen zu finden, die losen Enden wieder zusammenzufügen, den Twist in Ordnung zu bringen, die unterbrochene Informationsflüsse auslösen. Fennell wird Zeuge des Chaoses, das ein solcher Kabelriss auslöst.

Wir flicken die Enden, damit sich die Menschen weiter zugrunde richten können.

Conway lässt sich von Fennell nur ungern in die Karten schauen. Und Fennell ist sich nicht sicher, ob das, was ihm Conway an Fassade zeigt, dem entspricht, was er mit sich trägt. Während der Fahrt auf dem Ozean teilt man der Crew mit, dass auf die Lebenspartnerin von Conway ein Säureanschlag verübt wurde. Zanele ist Schauspielerin und Mutter zweier Kinder. Während Fennell immer klarer wird, dass Conway mehr als ein Geheimnis mit sich herumträgt, kappt Conway Fennells private Netzverbindungen. Und als Conway bei der letzten Aktion der Georges Lecointe völlig unerwartet spurlos vom Schiff verschwindet, man von einem Unglück ausgeht, verstrickt sich Fennell immer mehr in seinen Recherchen um einen Mann, der vordergründig vorgibt, ein Retter zu sein, einer der das zusammenflickt, was die Welt aus den Fugen zu reissen droht.

Colum McCann spinnt ein feines Netz um zwei in ihren Tiefen verletzte Männer, um eine Gesellschaft, die sich im Netz aus Informationen über die eigentlichen Probleme dieser Erde hinwegtäuscht, um eine Erde, die aus dem Gleichgewicht gekommen ist, einen Planeten, bei dem der Dreck bis in die entferntesten, dunkelsten Ecken vorgedrungen ist. Colum McCann gelingt es mit seiner äusserst suptilen Erzählstrategie, mich als Leser zu verunsichern, den Spiegel vorzuhalten. Unter all den Oberflächen ticken Bomben.

Was ich lese, ist ein Bericht. Conway ist tot. Ein Tauchgang in Abgründe.

Colum McCann mit Moderatorin Jennifer Khakshouri und Vorleser Thomas Sarbacher an der Lesung des Literaturhauses Zürich vom 11. März 2025

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer und Zoli». Für den Roman «Die grosse Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Thomas Überhoff studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und arbeitete lange als Lektor und Programmleiter Belletristik beim Rowohlt Verlag. Er übersetzte unter anderem Sheila Heti, Nell Zink, Jack Kerouac und Denis Johnson.

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Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt

Colum McCann ist in Dublin aufgewachsen, nicht weit von Nordirland, wo sich „Katholiken“ und „Protestanten“ Jahrzehnte und über Generationen bekämpften, bis auf die Zähne bewaffnet, zu jeder Schandtat entschlossen. Colum McCann wählte für seinen Roman „Apeirogon“ einen Schauplatz, der sich in vielem mit seiner Heimat vergleichen lässt; Palästina und den unversöhnlichen Konflikt zwischen Palästinensern und dem hochgerüsteten Israel.

Colum McCanns Roman ist ein Monument, ein Berg! 500 aufwärts nummerierte Texte bis in die Mitte des Buches, zwei kurze Kapitel über die beiden Protagonisten, einen palästinensischen und einen israelischen Vater, die beide um ihre im Konflikt getöteten Töchter trauern, 500 abwärts nummerierte Texte und ganz in der Mitte der eine 1001., ein einziger Satz, der offenbart, was passiert, wenn Unvereinbares zusammenkommt. Zwei Seiten eines Berges, eines Trümmerberges genauso wie dem einzigen Berg, der aus dem Schlamassel herausragt. Jenen Berg, den es zu erklimmen heisst, wenn man über all den Sumpf, all die Trümmer, als das Leid, den vielfachen Tod hinwegschauen will, um Worte zu finden. Denn es sind Worte, mit denen man Konflikte löst, nicht Waffen. Mit jedem Schuss aus einer Waffe werden neue Wunden aufgerissen.

Rami Elhanan war Soldat in der israelischen Armee. Aus dem Krieg zurück begann er ein Studium an einer Kunstakademie, heiratete Nurit und wurde Vater von vier Töchtern. Eine davon war Smadar, geboren 1983, am Tag vor dem Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. 14 Jahre später, wieder kurz vor Jom Kippur, wird Smadar Opfer eines Selbstmordattentäters, sie zusammen mit zwei Freundinnen unterwegs in der Stadt, sie zusammen mit sieben andern, die von drei als Frauen verkleideten Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurden, sie zusammen mit ihrem Vater und seiner Familie, der dem Schmerz danach nie mehr entfliehen konnte.

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt, 2020, 608 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-498-04533-3

Bassam Aramin ist Palästinenser, Vater von Abir, die mit zehn Jahren mit einer eben erst gekauften Zuckerkette nicht weit von ihrer Schule aus einem fahrenden Jeep amerikanischer Bauart, von einem Gummigeschoss amerikanischer Bauart, abgefeuert von einem Gewehr amerikanischer Bauart am Hinterkopf getroffen wird und nach einer ewig dauernden Fahrt mit dem Krankenwagen, vorbei an Checkpoints, aufgehalten von der Polizei an den Folgen dieser Schädelverletzung stirbt. Bassam Aramin war selbst siebzehn Jahre im Gefängnis, weil der Hass auf die Besatzer ihn dazu trieb, Handgranaten zu werfen.

Zwei Mädchen sterben, das eine zehn Jahre später als das andere. Aber beide in einem Land, dass gespaltener nicht sein kann. In einem Land, in dem Völker viel mehr als nur durch Mauern voneinander getrennt sind, unvereinbar, unendlich weit voneinander weg. Beide Väter tragen einen Schmerz mit sich, der sich leicht in Rache entladen könnte. Aber sie tun es nicht. Ganz im Gegenteil. Irgendwann stehen sie sich gegenüber in einem Jerusalemer Vorort, in einem Backsteinkloster, einer Veranstaltung einer Organisation, die die Väter von Opfern gegründet haben, die „Combatants for Peace“ und der „Parents Circle“. Was eine zaghafte Annäherung war, wird zu einer Freundschaft, was Selbsthilfe war, wird zu einer Mission. In den folgenden Jahren fahren Rami und Bassam von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, in der Überzeugung, dass nur das Wort, das Verstehen, die Verständigung Brücken über die feindlichen Linien hinaus bauen kann.

„Apeirogon“ ist ein vielseitiges Panoptikum, 1001 Geschichten um die Tragik eines Landstrichs, der schon über Jahrhunderte im Brennpunkt der Geschichte liegt. Aber auch ein Ort über den abertausende von Vögeln ihren Weg finden, über ein Land, das wie ein Flickenteppich aus lauter Unvereinbarkeiten zusammengefügt ist, verklebt durch Hass, Unverständnis und himmelschreiender Ungerechtigkeit, voller Grenzen für Menschen, grenzenlos für die Vögel. Eine Begrenztheit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, die eingeschweisst und eingeritzt ist in das Bewusstsein der Menschen, Menschen, die oft nur einen Steinwurf voneinander leben.

Colum McCann ist ein ganz besonderer Roman gelungen. Ein Buch, das sich einbrennt!

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

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Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif