Christoph Keller «Jeder Krüppel ein Superheld», Limmat

Als ich Christoph Keller vor ein Vierteljahrhundert mit seinem dritten Roman «Ich hätte das Land gerne flach» nach Winterthur in ein Restaurant zu einem meiner «Literaturzirkel» einlud, kurvte er damals schon mit seinem Rollstuhl bis zum langen Tisch in der Ecke des Gasthauses. Christoph Keller kurvt noch immer; durch sein Leben, seine Auseinandersetzung mit seiner Einschränkung, sein literarisches Schaffen, das sich stets neu erfindet, wenn auch SMA, seine Krankheit, sein Leben und sein Schreiben durchsetzt.

Christoph Keller «Jeder Krüppel ein Superheld», Limmat, 2020, 220 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-003-4

Christoph Keller sitzet mehr als ein halbes Leben lang im Rollstuhl. Zuerst war der Rollstuhl eine Art Rückversicherung, dann sein Begleiter, mittlerweile sein fahrbares Standbein. Christoph Keller war 14, als er die Diagnose SMA Spinale Muskelatrophie erhielt. Eine Krankheit, die in drei Typen auftritt und Christoph Keller trotz aller Einschränkungen eine „normale“ Lebenserwartung verspricht. Auch wenn der Autor zur „leichtesten“ Form von SMA verurteilt ist, SMA hört nie auf, schmerzt wohl nicht, aber hebt Muskelfunktionen auf. Aber kann man dann vom Glück von SMA Typus III sprechen. Wohl kaum und vielleicht doch. „Jeder Krüppel ist ein Superheld“ spricht genau davon.

Schon bemerkt?

Die Leute sagen nicht
mehr: sei will-
kommen. sie sagen: kein
problem.

früher waren wir
willkommen. jetzt
sind wir kein
problem.

Über Jahrzehnte pendelte Christoph Keller nicht nur geographisch zwischen zwei Welten, zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Jan Heller Levi, zwischen New York und St. Gallen, den USA und der Schweiz. Er pendelt auch zwischen Zuständen; zwischen dem allmächtigen Erfinder und Sprachschöpfer und einem Menschen, dem die Bewegungsfreiheit am allerwenigsten durch seinen Rollstuhl genommen wird. Unsere Welt ist die Welt der „Normalen“, des Normalen. Dass das Nicht Normale, das Nicht Normierte keinen oder nur wenig Platz hat, das zeigt nicht nur die Tatsache, dass es im Parlament der Schweiz nur einen einzigen Parlamentarier gibt, der vergleichbar eingeschränkt ist (Ich muss schmunzeln beim Schreiben dieses einen Satzes!). Er pendelt zwischen Kampfansage und Versöhnung. Nicht der Versöhnung mit den Widrigkeiten der Umwelt, die das Leben eines Eingeschränkten noch multipliziert, sondern der Versöhnung mit sich selbst. Christoph Keller hadert nicht, strotzt dafür vor Tatendräng, schöpferischer Kraft und laut vernehmbarer Liebe. Jener zu seiner Frau, jener zu seiner Sprache, jener zu seinem Leben.

© Christoph Keller «Church St. & Worth St.»

„Jeder Krüppel ein Superheld“ ist weder Roman noch Sachbuch, keine Biographie und keine narzistische Selbstdarstellung. „Jeder Krüppel ein Superheld“, das „Krüppelbuch“, wie es der Autor selbst nennt, ist ein bunter Strauss an Texten und Bildern; Auseinandersetzungen mit sich und der Umwelt („Keines meiner Bücher hat mich so viel Kraft gekostet.“), ein „Rollgang durch sein Leben“, Begegnungen, Gedanken und Beobachtungen, Biographisches, eine „Wanzengeschichte“ über mehrere Kapitel, Gedichte, auch solche seiner Frau Jan Heller Levi und Fotografien. Fotographien von Pfützen in New York (Glunggenbilder), die eigentlich jene unüberwindbaren Zentimeter dokumentieren sollten, aber immer mehr zur Bildauseinandersetzung wurden. Fotografien, in denen sich New York in Pfützen spiegelt, jene unüberwindbaren Zentimeter gleich neben der Weite und protzigen Grösse der selbstbewussten Millionenmetropole.

Franz Kafka schrieb sich mit „Die Verwandlung“ ins kollektive Kulturbewusstsein. Gregor wird zum Käfer. Christoph Kellers Auseinandersetzung mit Kafkas Text resultiert vielleicht auch aus dem Gefühl, von Umgebung und Gesellschaft ebenfalls, wenn auch langsam, zum Käfer gemacht zu werden, einem hilflosen Etwas, das auf dem Rücken um sein Leben strampelt. „Jeder Krüppel ein Superheld“ tut bei der Lektüre dort weh, wo mir bewusst wird, mit wie viel Gedankenlosigkeit und Selbstverständlichkeit ich durch mein Leben torkle. Aber ich kann torkeln. Christoph Kellers Buch hat nichts von Wehleidigkeit, keine Spuren von Sentimentalität und schon gar nichts Voyeuristisches. Christoph Keller sprudelt, sprudelt erst recht, auch literarisch und schöpferisch, wenn in seiner Wanzengeschichte aus einem Menschenbauch nicht nur ein Kribbeln zu spüren ist, sondern Ameisen schlüpfen.

„Streif dein Kostüm über und roll, SMA-Man!“

@ Ayse Yavas

Christoph Keller (1963) ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). Zusammen mit Heinrich Kuhn hat er drei Romane sowie die Kürzesterzählungen «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (Keller+Kuhn, Edition Literatur Ostschweiz, St. Gallen, 2015) veröffentlicht. 2016 erschienen der Erzählband «A Worrisome State of Bliss: Manhattan Tales and Other Metamorphoses» (Birutjatio Press, Santiniketan, Indien, 2016) sowie «Das Steinauge & Galápagos. Ein Roman und sechs Erzählungen» (Isele, Eggingen, 2016). Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Zuletzt erschien im Limmat Verlag der Roman «Der Boden unter den Füssen», der mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet wurde.

Webseite des Autors

Beitragsbild @ Ayse Yavas

Literaturfest mit Christoph Keller and friends

«Drachenschuppen, Wolfsgebeiss, Hexengift und Vollgeschiss aus dem Bauch des Salzmeerhais, Schierlingswurzel dunkelweiss, von dem Lästerjud die Leber; Ziegengalle; Blütengeber, die man von den Bäumen riss, als der Mond in Finsternis, Türkennas, Tartarengrind und den Finger von dem Kind, das erwürgt wird bei Geburt von ner Frau, die strassenhurt – all das macht den Kessel fein, und mit Tiger-Innerein wird die Suppe bald fertig sein.»

Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen
Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen

Zwar war nicht Mitternacht und man traf sich auch nicht im Pilzkreis im Hätterenwald. Aber was am späten Nachmittag in der Militärkantine St. Gallen rund um den Schriftsteller Christoph Keller und seinen neuen Roman «Das Steinauge & Galapagos»  (Sammlung Isele) über die Bühne ging, war derart gestopft mit künstlerischen Leckerbissen von unterschiedlichem Giftgehalt, dass das Gemisch durchaus an einen wilden Tanz um die Kunst erinnerte. Christoph Kellers Gäste waren die Musiker Zelda Umur und Daniel Schnyder, die Schriftsteller Jan Heller Levi, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch und Peter Weber, der Verleger Parantrap Chakraborty und die Künstler Marlies Pekarek und Roman Signer.

Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers "Mugwumps are what they seem."
Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers «Mugwumps are what they seem.»

In Christoph Kellers Roman kämpft Philip Gundolf mit der latenten Mitschuld am frühen Tod seines Schulfreundes Stieglitz. Gundolf, der erfolglose Schauspieler, quartiert sich einen Sommer lang im Elternhaus seines Freundes ein, um der Frage nachzugehen, ob er am Ende gar nicht sein eigens Leben, sondern das seines verstorbenen Freundes gelebt hat.
Die Tatsache, dass der Roman aus dem Erinnerungsbuch «Der beste Tänzer» nicht mehr bei S. Fischer Platz fand, mag darin begründet sein, dass Christoph Keller nicht daran interessiert ist, einfache Bücher zu schreiben. Wem Christoph Kellers Roman gefallen soll, muss sich einlassen, muss bereit sein, von der wilden Suppe zu kosten!

Rebecca C. Schnyder mit "Alles ist besser in der Nacht" (Dörlemann)
Rebecca C. Schnyder mit «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann)

Ein herrlicher Vorabend. Während draussen der Regen trommelte, der Wind die Fenster quietschen liess, führte Eva Bachmann gekonnt und überaus freundschaftlich durch den Kulturmix: Rebecca C. Schnyder, junge St. Galler Schriftstellerin las aus ihrem ersten Roman «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann), böse Stücke, Texte wie schwere Motorräder mit Auspuffen, die knallen, Stücke aus ihrem Roman über eine junge Frau, die mit allem Tun schmerzen will, selbst mit ihren verkorksten Liebeserklärungen.

Heinrich Kuhn "Alles Übrige ergibt sich von selbst" (VGS Verlagsgenossenschaft)
Heinrich Kuhn «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (VGS Verlagsgenossenschaft)

Heinrich Kuhn, ein St. Galler Literatur-Urgestein, der zusammen mit Christoph Keller etliche Romane schrieb, las Geschichten aus seinem wieder mit Christoph Keller veröffentlichten Erzählband «Alles Übrige ergibt sich von selbst» um die beiden Stadtflanierer Maag und Minetti. Witzige, hintersinnige Texte, die mit Sprache und Möglichkeiten spielen; über den Arzt Dr. Guillotine, ein Taubenexperiment und die Möglichkeit, dass Dr. Röntgen auch Dr. Wolgensinger hätte heissen können.

Florian Vetsch "Steinwürfe ins Lichtaug" (Moloko Print)
Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug» (Moloko Print)

Florian Vetsch, Lyriker, Herausgeber und Übersetzer rezitierte messerscharfe Gedichte, Lyrik, die weh tun kann, weil sie trifft und betroffen macht, die Weltgeschehen spiegelt, Zeuge ist für Literatur, die sich einmischt, unbequem, mit der scharf geschossen wird, weit weg vom lieblichen Schmeicheln.

Peter Weber "Gotthardfantasien" Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)
Peter Weber «Gotthardfantasien» Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)

Und Peter Weber, nicht vergessen, auch wenn schon lange nichts mehr auf der grossen Bühne erschien, bewies mit seinen Texten, warum es sich weiterhin lohnt, geduldig auf ein neues Buch von ihm zu warten, auf Sprache, die sich mit Peter Webers Wucht hoffentlich nicht in allzu ferner Zukunft auf mich Neugierigen wartet. Peter Weber ist nicht nur Textschöpfer, sondern Wortbildner. Da wabbert Hochliteratur! Und dabei waren seine Kostproben in Maultrommelkunst wie Telegramme, Signalreihen aus jener fernen, fremden Welt, in der Weber zum Medium wird.

Man möge mir verzeihen, wenn ich nicht allen in Aktion Getretenen gerecht werde. Aber ich war Zeuge eines Kunst-Sommerfests der Superlative.

Literatursommerabend in St. Gallen

Am Sonntag, den 21. August steigt in der Militärkantine St. Gallen ein ganz besonderes Sommerfest, ein Literatur-Sommerfest. Ab 16 Uhr im Garten!

«WAR DAS EINE GAUDI IM HÄTTERENWALD!»
Im Hätterenwald schiesst es aus dem Gebüsch. Waidwund röhrt der Jäger vom Hochsitz herunter, Fuchs und Hase lachen sich ins Fäustchen. Was für eine Gaudi! Oder war doch alles ganz anders?

christoph_keller„Das Steinauge“ heisst der neue Roman, den Christoph Keller vorstellt. Und er lädt seine Freunde dazu ein: die Literaten Peter Weber, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Rebecca C. Schnyder, Parantap Chakraborty und Jan Heller Levi, die Künstler Roman Signer und Marlies Pekarek und die Musiker Daniel Schnyder und Melda Umur.

Gelesen wird auf Deutsch, Englisch und Bengali, Texte kommen zu Wort und verbinden sich mit Musik, Bildern und Videos. Daraus wird ein sprühendes Sommerfest mit Künsten.

Eintritt Fr. 30.-/15.-
Die Platzzahl ist beschränkt, Reservationen unter kultur@militaerkantine.ch

Im Anschluss an das Programm: Ausklang beim Abendessen unter Kastanien. Reservation für Essen unter essen@militaerkantine.ch empfohlen!