Ein schmaler, poetischer Roman über eine Männerfreunschaft: Paul, Jonas und Galel. Das 2022 in der Édition Slatkine unter dem Titel „Galel“ erschienene Debüt der jungen Trägerin des Schweizer Literaturpreises 2023 ist ein zarter Text über drei Männer, die in den kantigen Felsen der Berge überraschende Emotionen zeigen. Ein Roman, der mit ramuz’scher Kraft von der Unaufhaltsamkeit erzählt.
Sie treffen sich immer wieder, dort oben in den Felsen, über den Bäumen, eingerahmt von scharfkantigen Bergen, am Pass zwischen dem Val du Tesor und dem Val Lesiùn. Bei einer ehemaligen Alpwirtschaft mit drei kleinen Hütten, schon lange umgebaut zu einer Berghütte, die den Sommer über von Paul bewirtschaftet wird. Den Winter durch arbeitet Paul unten im Dorf im Lebensmittelgeschäft. Sitzt er nicht an der Kasse, räumt er Regale ein. Und wenn die Bauern im Dorf seine Hilfe brauchen, dann hilft er, auch wenn man ihn dafür schlecht entlöhnt. Im Frühling dann zieht er wieder hinauf zu den drei Hütten über 2000 Meter, zusammen mit seiner Stute Ariel und der letzten Kuh, die ihm am Hof unten im Tal geblieben ist, Petit Étoile. Eigentlich beginnt in jedem Spätfrühling sein Leben oben in seinem „Schloss“, seiner Baïta.
Dort oben lernt er die beiden Bergführer Jonas und Galel kennen, wenn sie auf ihren geführten Bergtouren Fremde durch die Berge lotsen und dann und wann in seiner Baïta Halt machen und übernachten. Und wenn dann die müden Wanderer alle in ihren ihren Schlafsäcken wegdämmern, entzünden die drei Männer vor den Hütten unter dem Firmament ein Feuer, berichten und schweigen, einer Verbundenheit gewiss, die sich wie Bruderschaft anfühlt. Sie alle drei finden ihr Glück genau dort. Dafür leben sie, dafür arbeiten sie unten im Tal. Bis Paul und Jonas merken, dass mit Galel etwas geschehen sein muss.
Auf einer seiner Bergtouren mit einem ganzen Tross Touristen, nicht weit von Pauls Baïta, kommt während Galels Wandergruppe eine Flanke traversiert, der Hang ins Rutschen. Galel eilt in den Steinschlag, in die Wellen aus Felsbrocken und Steinstaub, um einen der Wanderer vor dem Mitrutschen zu retten. Galel gelingt es, was ja schliesslich auch die Aufgabe eines Bergführers ist. Aber wegen einer unbedachten Bewegung knackt es im Knie des Retters. Und was sich zu Beginn als hartnäckiger Schmerz in seinem Körper einnistet, wird mehr und mehr zur Bedrohung seiner ganzen Existenz.
„Berghütte“ erzählt von einer achaischen Welt in den Bergen, von der Liebe dreier Männer zu den schroffen Felsen, von der unausgesprochenen Ahnung, dass diese Liebe unerwidert ist und einem ein einziger Fehltritt aus der Umarmung reisst. Fanny Desarzens beschreibt das Leben in den Bergen, als würde sie es immer mit sich herumtragen. Und doch ist diese Liebe weder verklärend noch romantisiert. „Berghütte“ ist erzählt wie die Landschaft selbst; karg, schroff, schlicht und all dem ausgesetzt, vor dem man sich naturgemäss schützen will. Dieser schmale Roman ist wie die grosse Kulisse für die Begegnung zwischen scheinbar unendlicher Bergwelt und endlicher menschlicher Kraft. Was Galel durch den einen Tritt zu verlieren droht, wird existenziell, die Sehnsucht nach jenen Momenten hoch über den Tälern vor dem Feuer zusammen mit seinen Freunden zerrend und zehrend.
Dieses Debüt der jungen Fanny Desarzenz ist erlebte Liebe zu einer Welt, die stets erobert werden will.
Fanny Desarzens, 1993 geboren, hat an der HEAD in Genf den Studiengang Bildende Kunst abgeschlossen. Für ihr Debüt «Berghütte» wurde sie mit einem Schweizer Literaturpreis 2023 und dem Terra Nova Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Sie lebt in Lausanne.
Claudia Steinitz, geboren 1961, lebt in Berlin und übersetzt seit vielen Jahren französischsprachige Literatur, u. a. von Yannick Haenel, Véronique Olmi, Claude Lanzman und Virginie Despentes.
Beitragsbild © BAK / Julien Chavaillaz