Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand #SchweizerBuchpreis 24/05

Nicht erstaunlich, dass in der SRF-Bestenliste vom Oktober 2024 vier von fünf Titeln der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises entsprechen, Platz 2 bis 5. Nicht erstaunlich, dass der fünfte Titel „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler fehlt. Weil er sich in vielem quer stellt. Weil er sich mit Wonne und Lust zwischen Klischees und Abgründen bewegt. Weil er in Mundart geschrieben ist, rotzfrech und direkt. Und weil er beisst!

Dass die Kulturszene für Menschen ohne direkten Bezug nur schwer durchschaubar ist, kann ich nachvollziehen. So wie jede Szene in sich eine Welt ist, die einem von ausserhalb rätselhaft oder gar undurchschaubar erscheint. Es ist auch keine Neuigkeit, dass es in der Kulturszene Akteurinnen und Akteure gibt, die sich längst vom Prinzip der Wertschöpfung entfernt haben und nur arbeiten und existieren können, weil sie am Tropf der Allgemeinheit, an Segnungen von Fonds und Stiftungen hängen. Das ist auch gut so. Würde Kultur nur nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionieren, müsste Kultur stets gefallen. Sie müsste sich verkaufen. Und in den Geldstömen, die unentwegt fliessen, auch dann wenn es in der Wirtschaft kollektiv unter Finanzknappheit stöhnt und ächzt, scheint Kultur auch ein guter Ort zu sein, um zu kompensieren, auszugleichen, sich einen guten Namen zu schaffen, dem Selbstbild Glanz zu verleihen.

«För alles, wome mues mache, gets Chole, ond alles, wo Schpass macht, esch Läif.»

Béla Rothenbühler hat mit „Polifon Pervers“ einen erstaunlichen Roman aus eben dieser Kulturbubble geschrieben. Die Geschichte einer wilden Truppe, die sich aus dem scheinbaren Nichts konstituiert und zu einem beeindruckenden Konstrukt wächst, dass sich selbst am Leben hält, nicht nur zu einer erfolgreichen Unterhaltungsmaschine wird, sondern auch zu einer wirksamen und gerngesehenen Waschmaschine für Drogengeld und zwilichtige Geschäfte. Die Geschichte eines immer grösser werdenden Unternehmens, dass scheinbar ungehemmt und ungebremmst wuchert, auch wenn jedem der Beteiligten irgendwie bewusst ist, dass dereinst ein Ende mit Schrecken kommen muss.

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand, edition spoken script 50, 2024, 220 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-149-4

Sabine und Chantal gründen den Verein „Polifon Pervers“ mit der Absicht, zu einem wichtigen Player in der (alternativen) Unterhaltungsszene zu werden. Sie machen sich zu Produzentinnen und sammeln um sich eine illustre Gruppe mehr oder minder erfolgreicher Kulturschaffender, die im Schweif der grossen Ideen der beiden Frauen ihren Platz finden, nicht zuletzt darum, weil da Sozialversicherungen, Altersvorsorge und ein geregeltes Einkommen winken, woher auch immer. Eines ihrer Rennpferde ist „Käschwöscher“, eine Performanceshow, die sich zum Hype mausert. Aber „Käschwöscher“ ist längst zum Programm des Vereins geworden. „Polifon Pervers“ macht (fast) alles, um zu Geld zu kommen, tatsächliche Kultur, anderes mit frisierten Besucherzahlen, Geldwäscherei mit Drogengeld und Investitionen in den Anbau berauschender Pflanzen. Das Geschäft floriert und alles, was das Kollektiv in die Hand nimmt, scheint sich zu Geld zu verwandeln. Bis man augenreibend feststellen muss, dass im März 2020 die Strassen leergefegt sind, bis eine Lokaljournalistin mit dem windigen Unternehmen einen argen Schiffbruch provoziert, die Pandemie eine der beiden Frauen niederstreckt und die Geschäfte buchstäblich in Rauch aufgehen.

«All die Theater-Arschlöcher send ned nomen aberglöibig, versoffe, verloge, hochschtaplerisch ond chliikriminell, sondern hend ebe au no sone huere Hang zom Pathos.»

Dass Béla Rothenbühler nicht einfach wild fabuliert und selbst aus eben dieser Kulturbabble kommt, dass er im Erzählen weiss, wovon er schreibt, dass ich mir auch als Leser während der Lektüre die Augen reibe, sei es am fundierten Szenewissen, der wilden Story oder der genüsslichen Fabulierlust, macht den Roman zu einer Entdeckungsreise. Auch wenn die Figurenzeichnung darunter leidet. Protagonisten dieses Romans scheinen nicht die Menschen zu sein, von denen der Roman erzählt. Protagonist ist der wilde Tripp durch die Zeit, eine Fregatte wie bei „Fluch der Karibik“ aber auf den unergründlichen Untiefen des Kulturbetriebs. Klar kann man den Roman als grosse Persiflage lesen, als Satire, als verspielte, bitterböse Überzeichnung. Aber in den Szenerien steckt derart viel Echtes, dass man das Buch nicht einfach als literarische Spielerei abtun kann.

Man muss doch einiges an Biss entwickeln, um dranzubleiben. Nicht nur wegen der Mundart. Und ob dieses Buch wie im Reglement zu den «herausragenden Büchern» des Jahres zählt? In Sachen Skurrilität ganz bestimmt.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Fundraiser, Kulturkomissionsmitglied, Songwriter, Lyriker, Produzent sowie ehrenamtlicher Lektor des Deutsch-Lehrmittels einer amishen Gemeinde im Bundesstaat Indiana. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

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Illustration © leale.ch

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch