Mutters Sprache lässt sich vermessen wie das Schnittmuster für ein leichtes luftiges Kleid. Oder wie für einen zu eng sitzenden steifen und unbequemen Anzug. Gefangen in Launenhaftigkeit, schwankend zwischen heiterer Fröhlichkeit und finsterer Unzugänglichkeit durchpflügt sie die Tage. Und dazwischen Leni, die kleine Tochter.
Mutters Sprache ist spitz wie Stecknadeln, welche den Stoff zusammenhalten. Die Worte ritzen Lenis Seele. Leni schaut und lauscht den Stimmen hinter der geschlossenen Glastür. Sie sitzt dort gemeinsam mit dem Hund und versucht, durch das mit Schlieren versetzte Türglas die verschwommenen Umrisse der Mutter und der Gestalt einer weiteren Person zu erkennen. Mutter jagt Hund und Leni von der Glastür weg, sie ist mit Kundschaft beschäftigt.
Mutters Sprache zerschneidet Lenis Tag in Aufstehen, Mittagessen, Nachhausekommen und Schlafengehen. Dazwischen, wenn sie nicht draussen unterwegs ist, liegt Leni auf dem Rücken in ihrem Zimmer und beobachtet durch das Fenster die die vorbeiziehenden weissen Wolkengeschöpfe. Sie zeichnet die Umrisse in ihrem Kopf nach: ein Fisch, ein Teufel, ein Drache, eine Maus, ein Hund. Für Leni sind es glückliche Tage, sie kennt nichts anderes.
Abendessen gibt es dann, wenn der Vater nach Hause kommt. Danach richtet sich Mutters Tageszeit. Der Tisch wartet, gedeckt mit drei Tellern. Leni ist überzeugt, in der falschen Familie zu leben. Vielleicht ist sie adoptiert, denkt sie.
Immer, wenn Mutter mit Kundschaft beschäftigt ist, bleibt Leni sich selbst überlassen. Ihr Reich befindet sich draussen. Sie turnt an der Teppichstange oder verbringt die Zeit vor dem alten Speicher. Durch den breiten Spalt über der Türschwelle spähend und ohne etwas zu erkennen, versucht sie sich vorzustellen, was im Innern des alten kleinen Hauses wohl sein könnte. Welche Geschichten sich dort abgespielt haben könnten, schlimme vielleicht oder auch frohe. Darüber vergisst Leni die Zeit. und die Mutter muss sie suchen, zusammen mit dem Hund an der Leine.
Wenn es regnet, oder nach dem Mittagessen muss Leni in ihrem Zimmer bleiben. Sie richtet dann Räume in Kartonschachteln ein und stellt sich vor, sie würde darin leben. Allein, oder zusammen mit ihren Stofftieren. Sie erzählt ihnen die Geschichten, die sie erfindet. Sie handeln von kleinen Reichen, Inseln, die sich unter einem Baum oder auch mitten in einem See befinden. Um diese Inseln schwimmen Monster, die sich unter ihrem Bett verstecken. Die Mutter erzählt Leni auch Geschichten, abends, im Bett. Leni will dieselbe Geschichte immer wieder hören. Es ist die Geschichte eines Mädchens, dass die Noten auf der Blockflöte nicht spielen konnte, weil ihre Finger die Löcher nicht in der der richtigen Reihenfolge decken konnten oder sich die Löcher hurtig wegduckten, bevor die Finger sie fanden. Die Flötenlehrerin, eine der Mutter ähnelnde Frau mit seltsamen Unterrichtsmethoden verlor die Geduld und schleuderte das hölzerne Instrument durch das Zimmer. Leni staunt, dass die Flöte dabei nicht zerbrach und die Geschichte damit gut ausging. Doch Mutter will diese Geschichte nicht erzählen, sie gefällt ihr nicht, sagt sie.
Am Tag ist es plötzlich totenstill in der Wohnung. Leni öffnet leise die Zimmertür, dahinter liegt Mutter reglos auf dem Teppichboden. Leni schleicht sich ins Zimmer, setzt sich neben die still daliegende Gestalt und wartet. Mutter bewegt sich nicht. Lebt sie noch? Leni beginnt sich zu fürchten. Vielleicht ist die Mutter tot und Leni und der Hund sind dann ganz allein. Vorsichtig berührt sie den Arm der Mutter. Keine Reaktion. Lenis Angst um die Mutter wächst, sie versucht herauszufinden, ob sie noch atmet. Dabei weckt sie die schlafende Mutter, ihre Stimme zerreisst die Stille wie ein Stück Papier. Leni ist erschrocken und glücklich zugleich, die wütenden Worte der Mutter sind nicht schlimm, weil sie ja lebt und weiterhin auf Leni und den Hund aufpassen kann.
Draussen vor dem Fenster sitzt bereits die Dunkelheit wie ein grosses, pelziges Tier. Leni darf fernsehen. Mutter muss mit dem Hund noch raus, Leni will nicht mit, sie will diesen Film fertig schauen. Als der zu Ende ist, stellt Leni den Fernseher aus. Sie ist allein in der Wohnung. Leni wartet auf die Mutter und den Hund, dass sie endlich zurückkommen.
Keiner kommt. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch. Leni wartet hinter der Tür, spielt am Schlüssel, bis sich dieser dreht. Jetzt ist die Tür verschlossen. Mutter und der Hund können nicht mehr in die Wohnung, und Leni kann nicht raus. Leni spürt, wie das Monster unter ihrem Bett hervorkriecht, um sie zu fangen. Mit zittrigen Fingern nestelt Leni panisch am Schlüsselbund. Der Schlüssel will sich nicht zurückdrehen lassen, so verzweifelt sie es auch versucht.
Leni klettert auf den kleinen Balkon im ersten Stock und über das Geländer. Das Rufen ihrer Kinderstimme nach der Mutter versinkt in der pelzigen Dunkelheit des Abends. Sterne blinken, als Leni über das Geländer klettert und in die Tiefe springt, der Mutter entgegen.

Béatrice Bader *1968 ist visuelle Kunstschaffende und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen.