Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen», Suhrkamp

Kann man den Schrecken, das Grauen in Worte fassen? Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska kann es, auch wenn sie angesichts des Grauens ihrer Gegenwart darauf hoffen muss, dass Leserinnen und Leser verstehen und sehen. «Babyn Jar. Stimmen», ihr erster auf Deutsch erschienener Gedichtband ist ein Mahnmal.

Vor dem zweiten Weltkrieg lebten über 200 000 Juden in der Stadt Kiew, die grösste jüdische Gemeinde in der Ukraine. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flohen die meisten, aber viele Frauen, Alte, Kranke und Kinder blieben. Kaum war die Wehrmacht in der Stadt, begann das grosse Quälen, Drangsalieren und Morden, mitten auf den Strassen der Stadt, unter dem Beifall vieler Einheimischer. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch beschlossen die Besatzer die «Evakuierung der Juden». Am 28. September 1941, das Tausendjährige Reich schien beinahe ungehindert auf Expansionskurs, wurde der verblieben jüdischen Bevölkerung bekanntgegeben, sich am darauffolgenden Tag mit wenig Gepäck zur Aussiedlung in den Westen in bereitstehende Züge aufzumachen. Mehr Juden als erwartet folgten dem Befehl, die meisten nichts Gutes ahnend. Im Norden der Stadt, am Eingang zu einem schmalen Tal, einer Schlucht ähnlich, nahm man den ankommenden Juden alles weg, trieb sie in die schmale Schlucht und erschoss alles, was sich bewegte. Am 29. und 30. September 1941 wurden mehr als 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet, das grösste «einzelne» Massaker an der jüdischen Bevölkerung während des zweiten Weltkriegs.

Als mehr als zwei Jahrzehnte später einer kleinen Gruppe Deutscher in Darmstadt der Prozess gemacht wurde, waren die Männer, die als Angeklagte vor dem Richter standen, ganz unscheinbare Prokuristen, Buchhalter und Bankangestellte, Ehemänner und Familienväter, Einfamilienhausbesitzer und rechtschaffen. Sie wurden zu kurzen Haftstrafen verurteilt, meist früher entlassen, einige straffrei freigelassen. Polizisten, die damals schossen, waren nach dem Krieg weiter Polizisten.

Lange Jahre war das Gedenken an jenes Massaker ein Tabu, auch die fleissige Mithilfe der nichtjüdischen Kiewer Bevölkerung. Es brauchte Jahrzehnte, bis an den Orten des Grauens Gedenkstätten errichtet wurden.

«Babyn Jar. Stimmen» ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Der zweite Band erschien in der Ukraine 2023 unter dem Titel „Der Blitz begegnet Wind und Wasser“ und handelt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der dritte Band soll die zersetzende Wirkung des Krieges auf alle Lebensbereiche thematisieren.

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43176-4

«Babyn Jar. Stimmen» sammelt 67 Stimmen von Menschen zur Zeit ihres gewaltsamen Todes. Marianna Kijanowska beschäftigt sich aber nicht nur mit den Mechanismen der Gewalt. Sie gibt den vergessenen Stimmen eine Spur, eine Art Tonspur. Jedes Gedicht ist eine Stimme, Stimmen von Kindern, Erwachsenen auf dem Weg in die Schlucht. Stimmen, die nachvollziehbar nicht in Sprache fassen können, was ihnen bevorsteht. Stimmen, die die Angst zudecken, sich selber trösten, das Unaussprechliche ausblenden.

Das Morden unter dem Deckmantel einer Ideologie, als blosse Ausführung von militärischen Befehlen hat in der Ukraine noch immer kein Ende. Die 67 Gedichte in «Babyn Jar. Stimmen» lesen sich wie Meditationen. Sie helfen nicht zu verstehen. Sie trösten nicht. Aber sie streuben sich gegen das Schweigen, gegen das Vergessen, gegen die systematische Tilgung von Erinnerungen.

 

наповнити очі такими сльозами щоби не текли
солонішими аніж сіль кам’янішими аніж камінь
і дім збудувати з усього що всюди й не знати коли
було у дитинстві у небі в пісочниці і під руками
придумати маму нехай буде хаву таку щоб була моя
щоби голову мила мені щоб була чи просто була зі мною

називаючи речі в крамниці де хліб молоко але ще по краях

вітрини багато зимового з ковзанки щастя і сухостою

мене уже не рятує ніщо чи ніщо крім можливо сліз
які проламують тло поверхню і дещицю решти тіла

щоби не вмерти я мушу мати в судинах на дні і на дні валіз

важкі механізми придумувань витіснень крила крила –

***

die augen mit tränen füllen die nicht fließen
salziger als alles salz steiniger als aller stein
ein haus bauen aus allerlei von überall ohne zu wissen
war es als kind im himmel in der sandkiste unter den händen
eine mama ersinnen eine chava müsste es sein die meine ist
die mir das haar wüsche die da wäre oder einfach mit mir zusammen

die dinge im laden beim namen nennt da das brot die milch doch an den rändern

des schaufensters ist auch viel winter eisbahn glück und tote bäume

nichts kann mich mehr retten oder nichts als die tränen
die den grund die fläche das quäntchen die reste des körpers durchbrechen

um nicht zu sterben brauche ich auf dem boden der gefäße und auf dem boden der koffer

schweres gerät aus erfindungen verdrängungen flügel flügel –

 

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.

Claudia Dathe , geboren 1971, übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u.a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusez. 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusez für das Buch «Glückliche Fälle» mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband «Antenne» mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Wissenschaftskolleg Maurice Weiss

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (9)

Siebzig Jahre nach Babyn Jar, dem Massaker nazideutscher Spezial- und Polizeieinheiten unter Mithilfe ukrainischer Milizen an über 33000 Jüdinnen und Juden, Frauen, Männern und Kindern nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiev, gibt Marianna Kijanowska den Opfern in «Babyn Jar.Stimmen» Identität und Würde zurück.

Lieber Gallus

Babyn Jar, ein Wort, das in mir Sprachlosigkeit, Erschütterung, Wut und Erinnerungen auslöst. Zusammen mit unseren Freunden aus Kiev hatten wir vor über 20 Jahren in der Ukraine viele Stätten besucht, wo in Kriegen Leute kaltblütig ermordet wurden. Aber dieses Tal Babyn Jar hat mich am tiefsten beeindruckt, beschäftigt und ist sofort wieder vor meinem inneren Auge präsent.

Der ukrainischen Autorin Marianna Krijanowska ist es gelungen, mit «Babyn Jar.Stimmen» 65 fiktive Menschen sprechen und ihre beklemmenden Momente auf dem Weg zur Ermordung erleben zu lassen. Lesend erinnere ich mich an den Besuch dieser Stätte vor über 20 Jahren, an das erst 1991 errichtete Denkmal und den damals noch kaum zu findenden Weg. Später hatte ich die 13. Sinfonie Schostakowitschs für Orchester, Bass und Männerchor mit dem Namen Babyn Jar auf Schallplatte angehört.

Schostakowitsch, Kondraschin (Dirigent der Uraufführung) und Jewtuschenko am 18.12.1962 (von links)

Der junge russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte 1961 ein Gedicht über die Tragödie der Juden in dieser Schlucht veröffentlicht:

«Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir.
Es scheint mein Leben gar bis zur Geburt des Judenvolkes zu reichen.»….

das 1991 errichtete Denkmal

Die politischen Schwierigkeiten im poststalinischen Russland konnten die Uraufführung am 18. Dezember 1962 in Moskau nicht verhindern. Die gesamte kulturelle Elite Moskaus erwartete sie mit Ungeduld. Es wurde ein Riesenerfolg. Trotz frenetischem Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörern war anderntags in der «Prawda» nur eine knappe Zeile über das Konzert zu lesen. Leider wäre das heute kaum anders!

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (Ilma Rakusa zu «Stimmen»)

Der Band «Stimmen» macht mich sprachlos, weil hier eine einmalige Sprache von solcher Wucht, aber auch tiefer Schönheit und von musikalischem Klang vorliegt. Dies dank der wunderbaren Übersetzung:

«……und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen
um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben
und wie wir zum fluss gehen zu schauen
weil wir getötet werden adelka miriam debora
liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig
das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig
und wird dünner und dünner und das heisst tod………..

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, Suhrkamp, 2024,Ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca., ISBN 978-3-518-43176-4

Claudia Dathe (Übersetzerin von «Stimmen») schreibt im Nachwort, der Gedichtband sei der Auftakt zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den Mechanismen entfesselter Gewalt und ihrer Auswirkung auf das Dasein. Es soll eine Trilogie entstehen, wo auch die Schrecken des aktuellen Angriffskrieges Putins literarisch in Sprache umgesetzt werden soll.
Auch wenn die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit entfesselter Gewalt anspruchsvoll sind und weil weiterhin weltweit Kriege und Terror unsere menschliche Existenz bedrohen, ist meines Erachtens die Beschäftigung mit dieser dunklen Seite der Menschheit in der Literatur, in der Musik oder im Film sinnvoll und wichtig.

Was denkst du zu diesem Buch?

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Am 29. September 1941 wurden bei Kiev 33000 Menschen bestialisch ermordet, viele von ihnen aus nächster Nähe, unter gütiger Mithilfe vieler Menschen aus der Stadt, ihrer Nachbarn. Die Prozesse nach dem Krieg waren ein Hohn, eine Aufarbeitung kam erst nach Jahrzehnten schleppend in Gang. Selbst ein Dammbruch 20 Jahre später, der die Knochen jener freilegte, die man nach dem Krieg nicht «entsorgte» und vor die Häuser der Nachbarn spülte, war noch nicht Grund genug, sich dem apokalyptischen Schrecken zu stellen.

Vom 11. bis 19. Juli 1995 verübten serbische Soldaten und paramilitärische Einheiten im bosnischen Srebrenica ein unfassbares Massaker unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten. Über 8000 Menschen fanden durch Massenerschiessungen den Tod. Obwohl die Drahtzieher und Organisatoren des Massakers Mladić und Karadžić noch im gleichen Jahr verurteilt wurden und man die Tat als Völkermord taxierte, blieben viele der Täter ungeahndet.

Im Frühling 2022 besetzten russische Truppen den ukrainischen Ort Butscha. Die russischen Soldaten töteten innerhalb wenige Tage wahllos fast 500 wehrlose Zivilisten. Die Toten, die nicht eiligst verscharrt wurden, liess man tagelang liegen. Und selbst nachdem westliche Journalisten den Ort des Grauens erreichten, versuchte die russische Propaganda das Massaker als ukrainische Inszenierung herunterzuspielen.

Die Liste der Ungeheuerlichkeiten liesse sich beliebig erweitern, ob in biblischen Zeiten, im Mittelalter, in den Kolonien … ob im Krieg oder in angeblichen Friedenszeiten, ob unter „Barbaren“, im Namen von Kirche oder Krone … der Mensch, meist männlich, benötigt nicht einmal Raserei. Es reicht Kalkül. Dass sich der Schrecken, ob aufgearbeitet oder nicht, in der kollektiven Erinnerung der Opfer über Generationen festsetzt, wird allzu schnell vergessen. Dass sich die Untaten bis in die Gegenwart ausdehnen und in Nachfolgekonflikten, die sich wie Flächenbrände zu Kriegen auswachsen, ausgeblendet.

Die ukrainische Schriftstellerin Marianna Kijanowska

Ein Denkmal mag zur Erinnerung mahnen, eine Symphonie das Erinnern verstärken. Selbst das 2003 veröffentlichte Dokudrama „Das vergessene Verbrechen“, eine deutsch-belarussische Koproduktion des US-amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew, vermag nie das zu erzeugen, was Literatur vermag. Marianna Kijanowska lässt die Stimmen in meinem Kopf sprechen. Ich bin während des Lesens unmittelbar bei ihnen. Die Resonanz dieser Texte ist atemraubend.

Ich war noch nie in Kiev und es wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit diesem Buch und der ganzen Auseinandersetzung, die es auslöste, war ich dort. Selbst der ukrainische Text neben der deutschen Übersetzung wirkt. Es ist der O-Ton, der Verweis auf das Tatsächliche. Erstaunlich, was Lyrik zu bewirken vermag. Vor allem dann, wenn eine Autorin wie Marianna Kijanowska bei den Menschen selbst bleibt, nichts abstrahiert oder verschlüsselt. Ein starkes Buch. Und ein wichtiges Stück Selbstvergewisserung.

Soll man das lesen? Unbedingt – auch wenn es einen Schritt mehr braucht.

Liebgruss

Gallus

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.