„Chopinhof-Blues“ erzählt seismographisch von der Empfindsamkeit des modernen Menschen, von der Suche nach Vergebung, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, von Verletzungen, die unter vernarbtem Gewebe weitereitern.
Nicht lange her, da war ich an einer Geburtstagsfeier. Ich kannte ausser dem Gefeierten niemand. Nicht wenig hätte gefehlt und das Fest hätte kippen können. Tat es dann nicht, weil die Betroffenen nicht aussprachen, was durchaus hätte gesagt werden können. In Anna Silbers Debüt „Chopinhof-Blues“ treffen sich ein paar Leute in Wien zu einer Geburtstagsfeier. Der kleine Felix wird ein Jahr alt. Daniel, sein Vater, hat eingeladen, weil er nicht alleine mit seiner Ex feiern wollte. Im Chopinhof hat nicht nur Daniel den Blues.
An dem Geburtstag im Chopinhof sind Ádám und seine Frau Aniko eingeladen, beide seit fünf Jahren in Wien, aus Ungarn ausgewandert in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ádám, eigentlich studierter Philosoph, hilft Daniel, dem Vater des kleinen Felix, in seinem Malergeschäft. Und Aniko versucht mit ihrem Leben zurechtzukommen, in ihrer Liebe zu Ádám, mit der immer unausweichlicheren Frage, ob man selbst Familie werden will oder nicht. Und Ádám mit Aniko, von der er mehr als deutlich spürt, dass sie ihre Antworten nicht mehr mit ihm zusammen sucht.
Eingeladen ist natürlich auch Jacinta, die Mutter des kleinen Felix, Daniels Exfrau. Sie tauschen sich die Betreuung des Jungen. Eine Woche er, eine Woche sie. Eine wirkliche Trennung kommt nicht in Frage, denn Jacinta müsste dann mit einer Abschiebung zurück nach Zentralamerika rechnen. Aber Jacinta nimmt Tilo mit. Ihren Neuen. Und Tilo seine Schwester Katja. Katja und Tilo wuchsen im Heim auf, beide auf ihre Art traumatisiert von den Geschehnissen in ihrer Kindheit, einer abwesenden und in Drogen versinkenden Mutter, dem Verlassensein. Während Tilo sich als Künstler versucht, tut es Katja als Bankfachfrau. Aber ihr Beruf, ihre Machtlosigkeit, die Verdammnis, ihre Verstrickungen, schnüren ihr ebenso die Kehle zu wie der migeschleppte Alp zwischen ihr und ihrem Bruder.
Ebenfalls eingeladen ist Esra. Esra ist Krisenjounalistin, noch nicht lange zurück aus San Pedro Sula, einer Millionenstadt in Honduras. Zurück aus einem Krieg, von dem niemand spricht, einem Krieg, bei dem Kinder auf offener Strasse erschossen werden und es für niemanden dort eine Alternative gibt, weder eine realistische Möglichkeit zur Flucht noch eine menschenwürdige Zukunft. Esra zerbricht an der Machtlosigkeit, dem Bewusstsein, dass sie nicht einmal mit ihrem Schreiben etwas ändern kann, dass es nicht um Inhalte, sondern um den Marktwert einer Geschichte geht.
Dort im Hinterhof, im Chopinhof kommen sie zusammen. Sie alle, die gefangen sind in ihrer Geschichte. Anna Silber schreibt von Kämpfen, die sich langsam in Resignation verwandeln. Sie schreibt von der Depression, die sich in all die jungen Leben schleicht, weil man sich nicht in der Lage sieht, den Kampf aufzunehmen. Anna Silber schildert haargenau, in Dialogen, die entlarvend wirken, fern jeder Idylle. Es ist nicht der grosse Abgrund, aber die vielen kleinen, verborgenen, zugedeckten.
Ich wünsche „Chopinhof-Blues“ mutige Leserinnen, die aus dem, was ihnen Anna Silber Schicht für Schicht aus den Sedimenten dieses Abgrunds offenbart, Mut schöpfen können, jene Chancen zu ergreifen, die man sich nicht entgehen lassen darf. „Chopinhof-Blues“ ist sackstark!
Interview
Ich bin beeindruckt von Ihrem Roman, nicht zuletzt von seiner Konstruktion, wie sie ihn gebaut haben. Sie haben es sich nicht leicht gemacht. Ein dichtes Netz an Biographien und Geschichten! Wie schafft man es, die Übersicht, den Durchblick nicht zu verlieren?
Ich kann nicht für andere Autorinnen oder Autoren sprechen, aber für mich war ein aufgezeichneter romaninterner Zeitplan das wichtigste Hilfsmittel. Er hat sich vielfach geändert und ist mir trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ein treuer Begleiter durch das ganze Projekt hindurch gewesen. Oft genug habe ich aber natürlich aller Vorbereitung zum Trotze keine Ahnung mehr gehabt, was eigentlich wie zusammenpassen kann oder soll. Dann hilft nur lesen, umschreiben, lesen, umschreiben,…
Allein die Geschichte der Geschwister Tilo und Katja hätte Stoff genug beinhaltet, um einen eigenen Roman zu schreiben. Ich erinnere an die Romane von Angelika Klüssendorf. Auch dieses tiefe Ohnmachtsgefühl von Esra, der Krisenjournalistin, die sich einst voller Enthusiasmus und Ideologie in ihre ersten Einsätze stürzte, wäre Stoff genug für einen Roman gewesen. Ging es Ihnen gar nicht so sehr um die einzelnen Geschichten, sondern um den „Zustand“ einer Gesellschaft, die sich zu verlieren droht?
Mir ging und geht es um beides, um eine Kombination aus beiden Thematiken: auf der einen Seite das kleinteilige Einzelschicksal, auf der anderen Seite das verwobene, grössere Bild, das durch das Zusammentreffen der verschiedenen Geschichtsfäden entsteht. Das Kleine im Grossen sozusagen, um sich auch als Leserin oder Leser die Frage zu stellen, wo man sich in den Figuren erkennt, wo man vielleicht aber auch verständnislos ob ihrer Taten und Einstellungen reagiert – und warum.
Sie waren nach Ihrem Abitur für einige Zeit in Costa Rica. Spiegeln sich in den Erfahrungen Esras in der Millionenstadt Honduras eigene Erlebnisse?
Eigene Erlebnisse spiegeln sich zwar nicht unbedingt in Esras Erfahrungen wider, aber ich müsste lügen, wenn ich überhaupt keine Parallelen ziehen würde. Mit Sicherheit hat mich im Schreiben das beeinflusst, was ich in Costa Rica gelernt habe, zum Beispiel, dass soziokulturelle Realitäten in Zentralamerika vielschichter nicht sein könnten und dass historische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bedeutende Auswirkungen auf das politische Heute und Morgen haben. Ganz pragmatisch betrachtet halfen mir natürlich meine in Costa Rica gefestigten Spanischkenntnisse bei der Recherche zu San Pedro Sula und Honduras.
Alle Protagonisten befinden sich in Sackgassen. Vielleicht ist diese Verortung gar nicht so sehr das Resultat einer Resignation, sondern die Anerkennung einer Tatsache, der sich jede(r) zu stellen hat. Ihr Roman ist ehrlich, schmeichelt nicht, entzieht sich aller Verklärung. Ist das das „Programm“ Ihres Schreibens?
Ich muss zugeben, dass ich bisher keine klare Antwort darauf gefunden habe, was das «Programm» meines Schreibens, was also in diesem Sinne mein «Schreibstil» ist. Insbesondere bei diesem Projekt hat es mir aber sehr viel Freude bereitet, durch Reduktion Raum für Interpretation durch die Leserin oder den Leser zu lassen. Was passiert wohl zum Beispiel mit all diesen Menschen, nachdem sie im Chopinhof aufeinandergetroffen sind? Diese Fragezeichen, die mir selbst als Leserin sehr zusagen, habe ich auch versucht, als Autorin entstehen zu lassen.
Obwohl ich den Titel Ihres Romans nach der Lektüre verstehe, löste er während des Lesens nichts von dem ein, was ich mir vorstellte, als ich den Roman zu lesen begann. Selbst nach der Lektüre verstört er mich, weil er eine Leichtigkeit suggeriert, die der Roman mit keinem Satz will. Wie kam es zu diesem Titel?
Ist es vielleicht das Cover, das eine gewisse Leichtigkeit vermittelt? Für mich liegt tatsächlich ein gewisser Reiz in der Kombination aus Chopin, dem tristen Gemeindebau, der seinen Namen trägt, und dem Blues.
Anna Silber, 1995 in Mödling (Österreich) geboren, wuchs in Österreich und Deutschland auf. Auf das Abitur folgte ein Kultur-Freiwilligendienst in Costa Rica, anschliessend Studium der Transkulturellen Kommunikation und Internationalen BWL an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. „Chopinhof-Blues“ ist ihr Debütroman.
Beitragsbild © Paul Feuersänger