Kurt Marti: Gedichte und Prosa zu seinem 100sten Geburtstag, Wallstein

Zwei Grosse der Schweizer Literatur feiern dieses Jahr ihren 100sten Geburtstag. Der eine ein Pfarrerssohn, der andere Pfarrer selbst. Der eine weit über den ganzen Globus bekannt als Säule der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der andere nicht weniger geschliffen mit seiner Sprache, aber stets im Schatten anderer geblieben. Friedrich Dürrenmatt und Kurt Marti. Der eine Stern leuchtet hell, der andere hätte auch das Zeug zu einem Fixstern.

Friedrich Dürrenmatt liebte die grosse Bühne, sei es als Theaterautor oder als Stimme der Nation. Was er drei Wochen vor seinem Tod anlässlich einer Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises dem staunenden Publikum vortrug, grub sich tief in das Bewusstsein der Gesellschaft ein. Unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ rechnete Friedrich Dürrenmatt mit der Selbstgefälligkeit der Schweiz gnadenlos ab. Man lachte und applaudierte, aber im Nachgang der Rede fielen die Reaktionen schweizweit heftig aus. Der Pfarrerssohn aus Konolfingen hielt in seiner letzten „Predigt“ der Schweiz einen unangenehm flirrenden Spiegel hin. Zum letzten Mal, beissend pointiert, brillant formuliert. Friedrich Dürrenmatts Literatur ist durchaus moralisierend. Auch seine Bilder, sein malerisches und zeichnerisches Schaffen spart nicht mit unverhohlener Anklage. Dürrenmatt zeigt nicht nur auf die wunden Flecken, er bohrt mit Vorliebe tief darin.

Kurt Marti, von dem man als Pfarrer durchaus erwarten könnte, dass er mit dem Moralfinger mahnt, sich hoch auf der Kanzel an die armen SünderInnen richtet, die in ihrer Begrenztheit am Kleinen und Grossen scheitern. Aber Kurt Marti tat dies nie, oder dann mit so viel Verständnis für die Schwächen der Menschen, dass das Moralische in der Liebe, die in seinem Schreiben steckt, kaum sicht- und hörbar wird. Kurt Marti predigt nicht, weder in seiner Prosa noch in seiner Lyrik. Umso mehr ist sie durchsetzt von der Menschenliebe des Mannes, seiner überaus feinen Wahrnehmung, seinem Witz und Schalk und seinem Gespür für das Surreale im Realen. Zugegeben, ich bin kein Marti-Fachmann. Zugegeben, bisher stand nur ein einziges Buch im Regal meiner Bibliothek („Ein Topf voll Zeit“). Aber das muss und soll sich ändern. Kurt Marti hat ein reiches Werk hinterlassen. Und wer sich wie ich in den Kosmos Kurt Marti hineinstürzen will, dem erleichtert der Wallstein Verlag mit zwei sorgfältig edierten Werken aus Kurt Martis Nachlass diesen Einstieg.

Nun veröffentlicht der Wallstein Verlag „Alphornpalast“ mit Prosatexten und einem Vorwort von Franz Hohler; Texte, die bisher unveröffentlicht oder kaum nachzulesen waren und „Hannis Äpfel“, Lyrik aus dem Nachlass mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wohl kaum ein besserer Einstieg in das vielfältige Werk Kurt Martis. Beispielhaft aus dem Prosaband „Alphornland“ hier ein Text, den der Wallstein Verlag literaturblatt.ch freundlicherweise zur Verfügung stellte:

Irrläufer

Mit vermutlich gross gedachten, dann aber nur fahrig ausgefallenen Gesten ging er laut redend durch belebte Gassen. In der Absicht offenbar, beschwören und aufrütteln zu wollen, sprach er auf das Volk ein, das jedoch an ihm vorübereilte. Manche dachten wohl, er sei besoffen. Andere wichen ihm aus, verlegen oder sogar ärgerlich und schimpfend. Aber er redete nur noch heftiger, noch lauter, geriet zeitweilig ins Brüllen. Sturmvogel oder sturmer Vogel? Eine ziemlich kauzige Erscheinung mittleren Alters jedenfalls, mit strähnig wirren Haaren und abgetragener Lederjacke. Wie, wenn sein Reden vielleicht doch bedenkenswert gewesen wäre? Gibt es denn nicht genug Alarmzeichen dafür, dass wir einer Katastrophe entgegentreiben? Alarmzeichen, die uns erschrecken und zu einem Sinneswandel bewegen müssten? Nur eben, wer schon möchte einem kauzigen Schreihals zuhören, der sich zu einer so ungeeigneten Tageszeit, es war kurz nach Mittag, die Angestellten strebten wieder ihren Büros zu, auf eine Weise ereiferte, die lächerlich wirkte? So überanstrengte er seine Stimme noch mehr, sie überschlug sich immer öfter, bis dass er nur noch heiser zu krächzen vermochte. Und plötzlich dann war er in ein schattendunkles Seitengässlein enteilt und verschwunden. Niemand folgte ihm, nicht einmal ein Polizist.

(aus „Kurt Marti Alphornpalast“, Prosatexte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Marti und Mani Matter (1970), © Kurt Marti-Stiftung

Vielen seiner Texte entspringt unmittelbare Aktualität. Es ist, als ob Kurt Marti auch mit diesem Text nicht nur die Gegenwart, sondern einen, den Nerv der Zeit trifft. Ein Entrückter mitten in den Eingespannten. Die Szenerie erinnert an einen Künstler, der auf seiner einsamen Bühne performt, nur zur falschen Zeit, am falschen Ort. Was tut Kultur anderes, als oftmals aufschrecken, um dann hinter einem Vorhang im Halbdunkel wieder abzutauchen. Dort applaudiert die Menge, um danach alles beim Alten zu lassen. 
Kurt Martis Texte rütteln am Normalen, schlagen ein anderes Licht in die Szenerie der Normalität.

2017, nach Kurt Martis Tod, am 11.Februar, fand man in seinem Nachlass in seinem Arbeitszimmer mehrere Ordner, die er nicht wie fast alles andere, dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hatte. Die folgenden zwei Gedichte, die der Wallstein Verlag literaturblatt.ch ebenfalls zur Verfügung stellte, zeigen auf der einen Seite den Schalk, den Wortwitz und seine Nähe zur Konkreten Poesie und auf der anderen Seite seine grosse Liebe zu seiner Frau Hanni Morgenthaler, mit der er Jahrzehnte verheiratet war und deren Tod ihn 2007 zum Zurückgebliebenen machte.

etüde für ballhorn

aller umfang ist schwer
man soll den tag nicht vor dem absinth loben
ein unglück kommt selten um eins
reich und reich gesellt sich gern
was hänschen nicht lernt lernt hans immer mehr
muhe recht und scheue niemand
was lange weilt wird endlich wut
wie man sich fettet so siegt man
alte liebe kostet nicht
morgenstund hat blond im mund

(aus „Hanni“)

Versuch neulich,
den Atem anzuhalten,
möglichst lange, um dir
nachfolgen zu können.
Kinderei! So simpel
lassen Atem und Leben
sich nicht abschalten,
bin kein Apparat, 
aber auch kein indischer Yogi, 
bin Witwer jetzt –
ein Zu- und Zivilstand, 
der mir total missfällt.
Das einzig Gute an ihm:
Dir ist dadurch
die Witwenschaft zum Glück
erspart geblieben.

(aus „Kurt Marti Hannis Äpfel“, Gedichte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Martis Engagement war eingetaucht in Liebe; der Liebe zu seinen Nächsten, dem Menschen überhaupt, der Schöpfung. Sein Engagement war politisch, gesellschaftlich und wirkt bis heute in die Kultur, der Literatur im Besonderen. 

© Hektor Leibundgut

Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren. Nach dem Theologiestudium in Basel bei Karl Barth wurde er Pfarrer in Niederlenz bei Lenzburg und später an der Nydeggkirche in Bern. Seit den 1950er Jahren veröffentlichte er neben theologischen und publizistischen Texten auch literarische Werke, erste Poesie- und Prosabände entstanden. Er erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Literaturpreis des Kantons Bern (1967 und 2010), den Johann-Peter-Hebel-Preis (1972) sowie den Kurt-Tucholsky-Preis (1997). Marti lebte bis zu seinem Tod 2017 in Bern.

Kurt Marti Stiftung

Beitragsbild© Im ElfenauPark, Bern (2011), © Urs Baumann