47. Solothurner Literaturtage „Im Bunker Frieden“ Ein Mahnen gegen Gewalt

Dass in Solothurn nicht einfach die Literatur und ihre Akteur*innen gefeiert werden, dass etwas vom Geist der Gründungszeiten des Festivals geblieben ist, bewiesen die Solothurner Literaturtage heuer auf eindrückliche Weise. Durch den Umbau des Landhauses, seit Jahrzehnten traditionelles Festivalzentrum, sah sich das Festival zur Alternative gezwungen. Einer Alternative mit Zukunft!

Ohne dass sich das Festival ein Motto gegeben hätte, zog sich ein Thema durch fast alle Veranstaltungen der jährlich stattfindenden Werk- oder Nabelschau der nationalen Literatur; Institutionalisierte Gewalt, Rassismus, Unterdrückung, die Nachwirkungen kolonialer Gewalt, Gewalt gegen Frauen… kaum eine der Veranstaltungen belichtete nicht eine der Facetten einer menschlichen Tragödie, die sich die Öffentlichkeit noch immer nicht in seiner ganzen Breite zu stellen traut. Genau das soll passieren an diesem Festival. So wie die Gründer*innen vor 47 Jahren ein Forum für die aktuelle Literatur im Land schaffen wollten, sollte es ein Ort der Auseinandersetzung, des Austauschs werden. Eine Auseinandersetzung mit Themen und Texten.
Während uns die Fratze der Gewalt aus jeder Ecke des gegenwärtigen Lebens entgegengrinst, heisst es, sich dem Thema zu stellen. Literatur muss und soll ein Ort sein, an dem wir nicht nur konfrontiert werden, sondern eingeladen, sich ganz direkt mit den Auswirkungen von Gewalt auseinanderzusetzen.

Gabriela Wiener, geboren 1975 in Lima, ist eine peruanische Schriftstellerin und Journalistin. Zu ihren Büchern gehören «Nueve lunas» (2009), ein Memoir über Schwangerschaft, und «Sexografías» (2008), eine Essay-Sammlung über die zeitgenössische Sexkultur. Für eine Reportage über Gewalt gegen Frauen wurde Wiener mit dem peruanischen Nationalen Journalistenpreis ausgezeichnet. Ihr Debüt «Unentdeckt» stand 2024 auf der Longlist für den International Booker Prize und wird in 8 Sprachen übersetzt.

Ob das mit der peruanischen Schriftstellerin Gabriela Wiener geschieht, die aus dem spanischen Exil mit ihrem Romandebüt «Unentdeckt» 2024 auf der Longlist für den International Booker Prize stand über koloniale Gewalt, mit Lizzie Doron und ihrem Buch «Wir spielen Alltag. Leben in Israel nach dem 7. Oktober. Leben in Israel nach dem 7. Oktober» über den Terror im eigenen Land, oder mit Yevgenia Belorusets und ihrem Tagebuch «Anfang des Krieges» über den brutalen Angriffskrieg Putins in der Ukraine, oder mit dem Roman von Volha Hapeyeva «Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber», der sich sinnlich und poetisch mit der politischen Stille in ihrem Heimatland Weissrussland beschäftigt oder auch mit den ganz eigenen und eigenwilligen Auseinandersetzungen der Schriftstellerinnen Nora Osagiobare «Daily Soap» und Regina Dürig «Frauen und Steine», die sich mit ganz persönlichen Gewalterfahrungen auseinandersetzen – die Solothurner Literaturtage boten vielerlei Anlass zu Auseinandersetzung und Diskussion.

Sagal Maj Čomafai, geboren 1995 in Stans, hat Philosophie und Indologie an der Universität Zürich und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. Seine Texte sind bereits in zahlreichen Zeitschriften erschienen. «Fast nichts all inclusive» (2025) ist sein erstes Buch.

Aber auch in der direkten, unmittelbaren Konfrontation mit Texten. Im Format «Skriptor» diskutieren Autor*innen oder Übersetzer*innen zusammen mit dem Publikum einen in Arbeit befindlichen Text. Dabei geht es nicht wie beim Bachmannlesen in Klagenfurt um das gnadenlose Zerlegen eines Textes, sondern um das Wachsen eines Textes. Reaktionen, Fragen, Anregungen, Reibungen sollen den jeweiligen Testlieferant*innen Möglichkeiten geben, einem Text jene Hefe unterzumischen, der ihn aufgehen und wachsen lässt. Nirgendwo an den Solothurner Literaturtagen kommt man Texten näher wie an diesen Veranstaltungen – gerade eben, weil die vorgelegten Texte noch mitten im Entstehen sind.

Nora Osayuki Osagiobare wurde 1992 in Zürich geboren. Sie hat Literarisches Schreiben in Biel und Wien studiert. Ihr Debütroman «Daily Soap» (2025) wurde an den Solothurner Filmtagen und der Berlinale zur Verfilmung gepitcht. Sie lebt in Zürich.

Wie immer an den Solothurner Literaturtagen fehlen auch die grossen Namen nicht. Marlene Streeruwitz, vielfach ausgezeichnete Autorin, mit streitbaren Meinungen und immer wieder pointierten Aussagen, versuchte sich in einem Gespräch mit Jonas Lüscher zum Thema «Demokratie unter Druck» den Auswüchsen von Populismus und Radikalität zu stellen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn ein Gespräch nicht über Behauptungen hinauskommt und die Inszenierung wichtiger scheint als Inhalte. Auch Francesca Melandri, die italienische Autorin, die mit «Kalte Füsse» an die Solothurner Literaturtage kam, war nicht bereit für ein wirkliches Gespräch auf der Bühne. Ihr Auftritt war vielmehr ein Vortrag über die Auseinandersetzung mit dem «Schreiben über den Krieg», die Unmöglichkeit, sich als Unbeteiligte in diesen Schrecken hineinzufühlen und den Versuch, es mit dem Schreiben doch zu tun.

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik und arbeitet als freie Autorin. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» (2015) war für den Schweizer Buchpreis nominiert, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. «Im Meer waren wir nie» (2025) ist ihr drittes Buch.

Würdig und festlich waren sowohl die Preisverleihung des Solothurner Literaturpreises an Alain Claude Sulzer für sein Lebenswerk und die Verleihung der Schweizer Literaturpreise an Laura Leupi mit «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt», Romain Buffat mit seinem Roman «Grande-Fin«, Eva Maria Leuenberger mit ihrem Lyrikband «die spinne », Catherine Lovey mit ihrem Roman «histoire de l’homme qui ne voulait pas mourir», der 2026 auf Deutsch erscheinen soll, Nadine Olonetzky mit ihrer historisch-litauischen Auseinandersetzung «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist», Béla Rothenbühler mit seinem Mundartroman «Polifon Pervers«, der schon für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert war und Fabio Andina mit seinem Roman «Sedici mesi» («Sechzehn Monate») – und Fleur Jaeggy, mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2025, einer Grande-Dame der Schweizer Literatur, ausgezeichnet für ein Werk, dessen Strahlkraft weit über Grenzen hinausgeht. Eine Demonstration der Vielfalt schweizerischen Literaturschaffens!

Sunil Mann wurde im Berner Oberland als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er hat in Zürich Germanistik und Psychologie studiert, die Hotelfachschule Belvoirpark absolviert und danach zwanzig Jahre lang bei Swiss Airlines als Flugbegleiter gearbeitet. Er schreibt Kriminalromane, Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher sowie Hörspiele fürs Schweizer Radio. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem halben Werkjahr der Stadt Zürich.

Wäre Peter Bichsel im März 2025, eine Woche vor seinem 90. Geburtstag, nicht gestorben, hätte man den «Meister der kurzen Form» gefeiert. Er wäre unter einem der Sonnenschirme vor dem Restaurant Kreuz gesessen, umgeben von seinen Freunden, jenen, die ihm geholfen hätten, den beschwerlich gewordenen Weg unter die Füsse zu nehmen. Man hätte ihm gratuliert und er hätte abgewinkt, so wie ihm eine grosse Feier zuwider gewesen werde. Er hätte je nach Tageszeit vielleicht einen Roten getrunken und manchmal gedankenverloren über die Schulter seiner Gegenüber geschaut.
Trotzdem war Peter Bichsel da. Und zwar nicht nur an der rührenden Gedenkveranstaltung mit Peter Stamm, Guy Krneta, Kay Matter, Flurina Badel
dem Musiker Daniel Woodtli. Seit ein paar Monaten und während der Literaturtage permanent besetzt, befindet sich an der Schaalgasse 4 in Solothurn, zehn Atemzüge entfernt vom Restaurant Kreuz, für Bichsel zeitlebens ein Dreh- und Angelpunkt seines Lebens, das Büro Bichsel. Ein einziger Raum, in dem der Geist Bichsels weiterlebt und weiterschreibt, nicht nur seine Schreibmaschine im Schaufenster. Sein Leben pulst weiter, in seinen Büchern, die im Suhrkamp Verlag einen guten Hafen gefunden haben, im Büro Bichsel, dass nicht nur erinnert, sondern Ausgangspunkt für ein mobiles Bichsel-Museum ist. Aber es pulst auch weiter im Festival selbst, war Peter Bichsel doch 1978 Initiant des Festivals, zusammen mit vielen anderen. Gut, dass dort, im Herzen der Stadt Solothurn, Peter Bichsel seinen Platz hat. «Es gibt einen Verein namens Büro Bichsel, was die genau machen, weiss ich nicht. Aber es sind gute Leute, sie dürfen.» Peter Bichsel in der NZZ am Sonntag, 19.1.2025.

Danke! Solothurn war ein Fest! Durch und durch gelungen!

Zeichnungen © Charlotte Walder / literaturblatt.ch
Beitragsfoto © fotomtina

Lizzie Doron «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv

Am 7. Oktober griffen palästinensische Terroristen gezielt jüdische Zivilisten an und ermordeten so auf israelischem Staatsgebiet weit mehr als 100 Menschen. Ein Tag und seine Folgen, die zu einer prägenden Zäsur im Nahen Osten wurden und mit einem Mal ein sowieso schon fragiles Nebeneinander eskalieren liessen. Lizzie Doron wagt sich als Schriftstellerin und Jüdin an ein Stück Gegenwartsbewältigung, das man kaum in Worte fassen kann.

Wie schreibt man über ein Massaker, bei dem unter den Opfern Menschen sind, die einem nahe standen? Wie schreibt man über einen Flächenbrand, der unkontrolliert bis ins Jetzt wirkt? Wo sind die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Wie kann man schildern, was kaum in Sprache zu fassen ist, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die Angst einem die Kehle verschnürt, jedes Wort ein falschen werden kann, jede Äusserung als Stellungnahme interpretiert wird, selbst wenn es „nur“ um Empfindungen und Gefühle geht.

Völlig unerwartet griffen Bewaffnete der Hamas und des islamischen Jihads an jenem Dienstag ein Open-Air-Musikfestival und verschiedene israelische Siedlungen im Grenzland zum Gazastreifen an. Weit über 1000 Unschuldige wurden ermordet, vergewaltigt und verschleppt. In der Folge startete das israelische Militär einen Angriff, eine Geisel-Befreiungsaktion, die sich mehr als deutlich zu einem grausamen Krieg gegen ein Terrorregime entwickelte, das sich schamlos hinter einer leidenden Bevölkerung versteckt. Ein Flächenbrand, der ein ganzes Land in Schutt und Asche legte und Wunden schnitt, die sich auch mit einem Waffenstillstand auf Generationen hinaus nicht befrieden lassen werden.

Ein Installateur kann verstopfte Abflüsse beheben, der Elektriker hilft bei Kurzschlüssen, und ein Arzt heilt Wunden. Aber womit kann ich helfen, eine Schriftstellerin? Nicht einmal Worte habe ich.

Lizzie Dorn «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, 2025, CHF ca. 32.90, 160 Seiten, ISBN: 978-3-423-28453-0
aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Lizzie Doron versucht das Unmögliche. Sie, die sich auch in den Jahren zuvor immer wieder mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte. Sie, deren Grosseltern selbst Opfer während des Holocausts waren. Sie, die das Trauma schon seit Generationen mit sich trägt. Sie versucht nicht zu verstehen, ein unmögliches Unterfangen, aber sie versucht, jenen Sturm in ihrem Innern zu ordnen, die Druckwellen all jener Geschehnisse, für die es als Betroffene kaum Erklärungen gibt.

Über Jahrzehnte lebten die Bewohner Israels im festen Glauben daran, in einem mehr oder minder sicheren Land zu leben. Die Geschehnisse des 7. Oktobers haben diesen Glauben tief erschüttert. Krieg ist seit mehr als einem Jahr für Israelis und Palästinenser Alltag; Sirenen, die aus dem Leben reissen, Stunden und Nächte in Luftschutzkellern, Bomben und Raketen, Soldaten auf den Strassen, Ruinen und ausgebrannte Autos, Blut und Elend.

Was an dem Buch von Lizzie Doron beeindruckt, ist nicht ihre Betroffenheit, auch nicht ihr Schmerz, ihre Angst. Bemerkenswert ist ihre Position des Schreibens. Obwohl Lizzie Doron eine Betroffene ist, eine Trauernde, eine Traumatisierte, eine zu tiefst Verängstigte, klagt sie mit keinem Satz an. Nicht einmal die Verursacher dieser epochalen Misere, die Unbeweglichkeit, die dauernden Schuldzuweisungen, all die Politiker, die permanent Öl ins Feuer giessen.

Ein Krieg wie eine Naturkatastrophe, der zur Routine unseres Lebens geworden ist. Doch in Wahrheit ist es eine uns um den Verstand bringende, menschengemachte Tragödie.

Ich bin neugierig, ob man Lizzie Doron beim Besuch in Solothurn schützen muss. Ausgerechnet sie, die doch eigentlich nur um Verständnis, Empathie bemüht ist. Ob die Anwesenheit der Autorin zu einem Dialog wird und es nicht bloss bei einer Alibiübung bleibt. Wer sich in irgendeiner Weise zu den Geschehnissen zwischen Israel und den Palästinenser*innen äussert, riskiert den Zorn anderer, die Wut der einen oder anderen Seite. Selbst Besonnenheit und Zeichen der Mässigung können die Wut der Extremen entfachen. Alibiübungen braucht es in Solothurn keine, aber tatsächlichen Dialog!
Wie ich mich auf die Begegnung mit der Autorin freue!

Lizzie Doron, 1953 in Tel Aviv geboren, wurde durch ihre Romane über die zweite Generation nach der Schoah bekannt. Mit «Who the Fuck Is Kafka» – eine der wichtigsten literarischen Verarbeitungen des Nahostkonflikts – und «Sweet Occupation» wandte sie sich politischen Themen zu. Lizzie Doron wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sie lebt in Tel Aviv und Berlin.

Markus Lemke lebt als freier Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg. Er überträgt u. a. Werke von Eshkol Nevo und Dror Mishani. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis und 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis.

Beitragsbild © Dirk Skiba