Robert Seethaler «Das Café ohne Namen», Claassen

Einmal im Leben allen Mut fassen und jenen Schritt wagen, der einem etwas von jenem Glück bringt, dass überall zu spriessen scheint. Robert Seethales Roman „Das Café ohne Namen“ ist die Geschichte eines Mannes, der sich am Glück durch seine Gegenwart hangelt, zurückhaltend erzählt aber mit viel Liebe für jene, denen das Siegen nicht in die Wiege gelegt ist.

Wer Bilder aus den letzten Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit in den Grossstädten Deutschlands sieht und jene des Krieges jetzt in der Ukraine, kann sich kaum vorstellen, dass dereinst wieder ganz „normale“ Leben an jenen Orten stattfinden kann. Auch grosse Teile der Stadt Wien standen in Schutt und Asche. Ein Jahrzehnt stand die Stadt unter Zwangsverwaltung der Siegermächte. Aber noch ein Jahrzehnt später, in der Zeit, in der Robert Seethalers neusten Roman zu spielen beginnt, schien in der Stadt an der Donau alles im Umbruch, alles möglich. Wer es sich zutraute, wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Die Zukunft schien rosig, die Vergangenheit, das Versagen der Väter wollte man hinter sich lassen. Eine Generation später wuchs aus den Trümmern eines verlorenen Krieges, aus den Trümmern einer Idiologie ein scheinbar neuer Mensch, ein scheinbar neues Bewusstsein. Überall wurde gebaut, die Wirtschaft prosperierte.

Simon, der den Krieg bloss noch als Kind erlebte, dessen Eltern ihre Leben auf ganz unterschiedliche Art und Weise an den Krieg verloren. Sein Vater satrb den Heldentod im Feldlazarett, seine Mutter kurz danach an einer Blutvergiftung. Simon verdient sein Brot, sein Bett mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Markt; mal dort etwas helfen, hier was austragen. Es reicht grade so, um über die Runden zu kommen. Man mag ihn, nimmt seine Hilfe gerne in Anspruch, nicht zuletzt deswegen, weil er nicht jede Hilfeleistung mit Geld vergolten haben will. Er ist zufrieden, auch wenn er weiss, dass es nicht ewig so weitergehen will, erst recht dann nicht, wenn weil dereinst das Glück auch auf seiner Seite stehen soll.

Robert Seethaler «Das Café ohne Namen», Claassen, 2023, 288 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-546-10032-8

Frisch einquartiert bei einer Kriegswitwe übernimmt er ein leerstehendes Café nicht weit vom Markt, auf dem er als Gelegenheitsarbeiter sein Auskommen fand. Ein heruntergekommenes Gefiert, schmutzig, wenig versprechend. Aber Simon weiss, dass es seine Chance sein muss. Kaffee, Limonade, Himbeersoda, Wein und Bier, Schmalzbrot mit oder ohne Zwiebel, Essiggurken und Salzstangen – nicht viel. Und weil ihm kein Name richtig erscheint, bleibt das Café jenes ohne Namen.

Auch wenn die Anfangszeit schleppend verläuft, entwickelt sich das Café mehr und mehr zu einem Treffpunkt all jener, denen im Leben ein Stück Zuhause fehlt, aber auch jener unruhigen und mutlosen Seelen, die in der aufstrebenden Stadt durch die Maschen fallen, traumaisiert von ihrer Vergangenheit, fallengelassen von der Gegenwart, erschlagen von der Zukunft. 

Die noch junge Mila wird zu seiner Hilfe und irgendwann gelingt es Simon gar, einen Tag in der Woche nicht im Schankraum zu erscheinen, um an der Donau dem Wasser zuzuschauen. Er freundet sich mit dem Fleischermeister auf der anderen Seite der Strasse an, dessen Familie ungewollt mehr und mehr wächst, dessen Frau abzudriften droht und einer Geschäft, das von den ersten Supermärkten arg in Bedrängnis gerät. Nicht alle in Wien gehören zu den Gewinnern. Auch Simon nicht.  Oder Renè Wurm, einem der Ringer vom Neumarkt, die in inszenierten Schaukämpfen vom grossen Geld, von einer Karriere in Amerika träumen. Ein grosser, schwerer Mann, furchteinflössend aber mit der grossen Sehnsucht nach Nähe und einem Ort, der sein Zuhause ist. Oder mit der Witwe, bei der Simon sein Zimmer hat, einer Frau, die in ihrer Vergangenheit hängengeblieben ist und immer mehr in eine fortschreitende Demenz taumelt.

Was Robert Seethalers Roman lesenwert macht, ist die Leichtigkeit seines Erzählens. Ein ruhiger Streifzug durch die Stadt Wien um 1970. Man riecht den alten Mief in den Gassen. Man friert mit, wenn der alte Ofen aussteigt oder gar explodiert. Man sieht in Lumpen gekleideten Gescheiterten, die über dem ewig gleichen Glas in einer schummrigen Ecke des Cafés ihr Dasein aussitzen. Man begleitet diesen freundlichen, zurückhaltenden Mann, der ein Café betreibt wie damals seinen Dienst am Markt. Robert Seethalers Roman ist Denkmal all jener, die an der Seite der Verlierer das Leben meistern. Die Menschen, die in dem Café ein Stück Zuhause, ein Stück Heimat und Geborgenheit finden, sind Archetypen. Er erzählt einfach und süffig, ohne Effekthascherei, so unverkrampft und leicht, dass mich das Lesen für einmal in einen fast tranceartigen Zustand versetzt, ohne die harten Schickale jener Zeit schönzureden.

Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane «Der Trafikant» (2012), «Ein ganzes Leben» (2014) und «Das Feld» (2018) wurden zu grossen internationalen Publikumserfolgen. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman «Ein ganzes Leben» stand er auf der Shortlist des International Booker Prize. Zuletzt erschien von ihm der Roman «Der letzte Satz» (2020) bei Hanser Berlin. Robert Seethaler lebt in Berlin und Wien.

Beitragsbild © Urban Zintel