«Das Leben muss weitergehen … vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht muss das Leben gar nicht weitergehen, vielleicht muss es einfach gar nichts. Nichts. Nur eines müssen wir: ein Wunder sein. Verletzlich sein. Sterben.»
Rainer Junds Buch ist kein Roman, eher eine Art reflexive Sammlung von Spitalgeschichten. Aber selbst diese Klassifikation wird dem überaus literarischen Schreiben des Arztes und Schriftstellers nicht gerecht. Wäre es ein Roman, wäre ein Protagonist im Zentrum. So sind es sie alle: Sie, die dort arbeiten, weiss gekleidet oder nicht. Sie, die dort hineingehen und etwas erhoffen, als Begleitung oder direkt betroffen. Sie, die dort in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen, die in extremis über Leben oder Tod entscheiden. Sie, die bewegungslos daliegen, weggetreten. Sie, die schon beim Eintritt alles besser wissen. Sie, denen alles oder fast alles genommen wird oder werden muss.
„Tage in Weiss“ erzählt von Liebe, Leben und Tod, von Verzweiflung, Ergebenheit und Hingabe. Rainer Jund erzählt in allem von allem: zarte Liebesgeschichten, schmerzhafte Trennunsgeschichten, solche von Macht und Ohnmacht, manchmal actiongeladen, manchmal ganz nach Innen gerichtet, genauso wie der Arzt im Spital zwischen seinen selbstvergessenen Einsätzen einen Moment der Rück- und Einkehr braucht.
Rainer Jund nimmt mich als Leser an der Hand, nicht weil er eine Sammlung Spitalanektoten zum Besten geben will, um mir zu beweisen, wie sehr im Kosmos Spital die Post abgeht. Er nimmt mich bei der Hand und führt mich zu den Menschen, denen in jenen Mauern das Schicksal durch Fremdbestimmung aufgezwungen wird, wo sich in Extremsituationen das zeigt, was sonst hinter Fassaden, Coolness und Selbstbeherrschung verborgen bleibt. Er nimmt mich an der Hand und zeigt mir das wahre Antlitz des Menschen, sei es in der Liebesgeschichte eines alten Ehepaars, wo der greise Ehemann am Bett seiner Frau sitzt und die durchscheinende Haut auf der Hand in seiner Hand streichelt oder wenn Naivität, Nicht- und Halbwissen auf Wissen und Wissenschaft prallt. Zuweilen reisst er mich an der Hand in einen Kampf um Leben und Tod, ob gewonnen oder verloren, dorthin, wo alles vorbei ist, die Nähe, das Glück, das Leiden, das Leben.
Rainer Jund schildert die Arbeit jener Menschen in Weiss, die sich in diese Farbe gewandet manchmal fast in Maschinen verwandeln, unter Stress zu reinem Funktionieren und Reagieren gezwungen werden. Zum Glück der Betroffenen, denn nähmen die Helfenden in allem Stress ihre Emotionen wahr, fände der Kampf gleich an mehreren Fronten statt, ganz zum Nachteil jener, deren Leben an einem Faden hängt.
Da ist auch kein Funke Heroismus, denn Rainer Jund zeigt in den Schwächen und Fehlern die Menschlichkeit.
Wer im Spital liegt, liegt unter einer Decke. Wer geht, geht im Spitalhemd oder im Morgenmantel. Aber eigentlich sind sie alle nackt, ihrer Schalen, Krusten, Schichten und Fassaden beraubt. Noch in diese Nacktheit hinein schneidet das Skalpell, öffnet noch einmal, noch tiefer. So wie Rainer Jund mit seinem Schreiben.
Und manchmal sind es einfach und immer wieder Sätze, die mich als Leser berühren. „Es gibt Menschen, deren Leid wie Schimmel auf dem feuchten Boden drängender Erwartungen aufkeimt.“ „Die Leere in mir war wie ein kahler Block.“
Noch während meiner Ausbildungszeit leistete ich Zivildienst in einem grossen Spital, zuerst einen Monat auf der septischen Abteilung, später auf der Orthopädie. Als ich mich am ersten Tag zum ersten Mal weiss eingekleidet hatte, nahm mich eine Pflegefachfrau an ihre Seite und mit zu einer Wundreinigung am Oberschenkel eines jungen Mannes. Der Mann sass aufrecht in seinem Bett. Die Schwester packte den Schenkel aus und begann mit ihren Gerätschaften die handlange Wunde zu reinigen. Mir wurde übel. Die Schwester schickte mich, nachdem sie mein bleiches Gesicht mit einem kurzen Seitenblick diagnostiziert hatte, weg, zurück ins Stationszimmer, wo mich Minuten später, nachdem man mich höflich gefragt hatte, ob ich wieder zum Einsatz bereit sei, eine andere Schwester bat, ihr zu folgen. In einem anderen Zimmer musste bei einer jungen Frau eine Magensonde gelegt werden. Aber nachdem sich die Patientin immer wieder mit Würgereizen gegen den langen Fremdkörper in ihrem Innern zu wehren schien, begannen meine Beine erneut zu wackeln. Ich zog mich kommentarlos zurück und schaffte es gerade noch auf das Personalklo auf der Etage. Dort sass ich dann ziemlich lange auf dem heruntergelassenen Klodeckel. Würde ich das schaffen, nachdem meine Standhaftigkeit schon mit den ersten beiden Einsätzen in Frage gestellt wurde? Oder war das alles Strategie, um dem jungen Gockel zu zeigen, wo «Bartli den Most holt»?
In „Tage in Weiss“ ist kein Funke Selbstinszenierung. Rainer Jund geht es um die Geschichten hinter den Gesichtern, hinter den Augen, hinter geschlossenen Lidern.
Unbedingt lesen, wer sich traut!
Rainer Jund, geboren 1965, studierte Medizin und Wissenschaftsmarketing. Nach seiner Ausbildung an der Universitätsklinik München praktiziert er heute als HNO-Arzt. In den letzten Jahren näherte er sich seinem Beruf zunehmend auch erzählerisch. Er lebt mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, und ihren drei gemeinsamen Kindern in München. „Tage in Weiß“ ist seine erste literarische Veröffentlichung.
Beitragsbild © Sandra Kottonau