Lux musste weg. Musste ein altes Leben hinter sich lassen. Vielleicht neu beginnen, vielleicht eine Pause, vielleicht ein neues Paar Schienen, die Ordnung in einem aus den Fugen geratenen Leben bedeuten. Sie steigt aus und ein in New York auf einen Tripp gen Westen, der Sonne, dem Licht entgegen. Zumindest ist da ein kleines Fünkchen Hoffnung.
Zugegeben, wer sich an diesen Roman wagt, muss einiges einstecken. Olivia Kudereswski schrieb keine Unterhaltungsliteratur. „Lux“ ist wie das Leben der Protagonistin; ein dauerndes Hin-und-Her zwischen Rausch, Ernüchterung, Sehnsucht und Absturz. Olivia Kuderewski leuchtet mit grellem Licht in ein Leben, das taumelt, das die Spur verloren hat, das strauchelt und stolpert. „Lux“ ist ein Roman, der mich in ein Leben zieht, eine Umgebung, eine Welt, die trotz seiner Gegenwärtigkeit etwas Dystopisches birgt. Das, was wir an Sehnsuchtsbildern der USA, das, was wir als Projektionen einer jungen Existenz, eines jungen Lebens mit uns herumtragen, ist weit weg von der Realität, die Olivia Kuderewski in ihrem Debüt beschreibt.
Lux ist eine junge Frau. Sie macht eine Reise, eine Reise quer durch das Land, durch die Staaten, von Ost nach West. Mit wenig Gepäck und der Absicht, vieles aus ihrem alten Leben zurückzulassen. Sei es Charles, sei es ihre Familie, seien es die Antidepressiva oder die Diagnosen, mit denen man sie aus der Klinik entlassen hatte. Sie will ihrer „Glocke“ entfliehen, diesem Etwas, dass sie nicht aus ihren Fängen entlässt, das sie von allem anderen Leben trennt, dass sie für gewisse Zeiten ausknockt.
Unterwegs lernt sie eine junge Frau kennen. Kat. Eine Ausgeflippte mit langem, leuchtend, weissem Haar. Eine Furie mit Schalenkoffer. Sie reisen zusammen, ohne je zusammen zu sein. Kat ist unnahbar, Lux schwer zu fassen. Je länger die Reise geht, desto mehr scheint die eine die andere zu brauchen, flimmert die Beziehung zwischen Hass und Anbetung, zwischen Unverständnis und Ergebenheit. Bis die beiden aus lauter Überdruss mit einem Spiel beginnen. Man stellt sich gegenseitig Aufgaben bis zur Selbstaufgabe, weit über die Schmerzgrenze hinaus. Nicht bloss die Reise, das Leben soll ein Tripp werden.
Das Buch erinnert mich an all jene, die sich durch körperliche Selbstverstümmelung besser spüren wollen, die den Schmerz brauchen, um sich ihrer Existenz sicher zu sein. „Lux“ schneidet ins Fleisch, ist ein Tripp in die Niederungen einer aus dem Kurs geratenen Selbstfindung. „Lux“ beschreibt, was wir nicht hören und nicht sehen wollen, ist eine Art menschliche Apokalypse. „Lux“ ist kein warmes Licht, viel mehr blaues Licht, das mich aufputscht, das Lux aufputscht, um in dunklen Phasen umso tiefer abzusacken.
„Lux“ ist eine Roadstory in einer dystopisch wirkenden Kulisse, durch ein kaputtes Land, vorbei an kaputten Menschen. Selbst dort, wo andere mit ihren Autos stehen bleiben und die Postkartenidylle fotografieren, ritzt es Lux an ihrer Haut, reissen die beiden Frauen an ihren Seelen. Und doch ist „Lux“ sprachlich ein Genuss. Von seltener Intensität und Nähe. Olivia Kuderewski schaut durch ein Brennglas, bis der Blick schmerzt. Die Autorin schreibt dort weiter, wo die meisten anderen aufhören.
Interview:
Warum die USA? Sind die Staaten als Kulisse kaputt genug? Oder weit weg genug?
Das hat mit den hartnäckigen Klischees von Freiheit zu tun, die hochkommen, wenn es um Roadtripps geht. Die gelten ja als Inbegriff von Befreiung und Lux will genau das erreichen – die Staaten sind ihre selbstgewählte Kulisse dafür. Der ultimative Roadtripp findet nun mal in den USA statt. An welchen besseren Ort könnte man sonst all seine Illusionen über Freiheit schleppen?
Sie wollen nicht einfach unterhalten, eine Geschichte mit Pointe erzählen. „Lux“ ist eine Berg- und Talfahrt mit eindeutigem Überhang Richtung „freier Fall“. Muss gute Literatur mehr wollen, als zu unterhalten?
Ich mag „freie Fall“-Bücher, wie Sie das nennen, also Texte, bei denen es auf irgendeine Art um ein Risiko geht. Mit denen sich jemand aus dem Fenster lehnt und die dann noch so gut gemacht sind, dass sie richtig treffen. Mir gefällt es, wenn jemand seine eigene Sprache und Handlung und eigene Figuren entwickelt. Ob das dann nur gut unterhält oder auch noch als „gute Literatur“ durchgeht, ist mir ziemlich egal.
Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee, der Kick, der die Geisterfahrt ins Rollen brachte?
Wahrscheinlich arbeiten sich die meisten Schreibenden an ihren Idolen ab, bei mir war das früher Kerouac. Aber der richtige Kick setzte ein, als ich irgendwann beim Schreiben den Gedanken hatte, dass ich meiner Hauptfigur ALLES wegnehmen will, was sie hat. Das spricht wohl für meinen schlechten Charakter.
Lux schafft es nicht, sich von ihrer „Glocke“ zu befreien. Ich kenne diese Glocke auch. Alle haben sie, wenn man ehrlich ist. Jene Glocke, die kleine Kinder noch nicht haben, die irgendwann zu wachsen beginnt und bei einigen zu einem Alp wird. Dieses Glockengefühl hat sich durch die Pandemie wohl bei vielen noch verstärkt. Eine Klimakrise der menschlichen Existenz? Eine Klimakrise, die ebenso viel Potenzial zur Katastrophe hat und global werden kann?
Sie fragen da wahrscheinlich nach so etwas wie Isolation und der Angst davor. Im Roman geht es Lux darum, aus dieser „Glocke“ auszubrechen und wieder Kontakt zur Welt aufzunehmen. Aber ob die Menschen mehr unter Einsamkeit leiden als früher und aus welchen Gründen, kann ich schlecht beantworten. Es ist ja immer grässlich, wenn man so empfindet, warum auch immer. Und wenn sich jetzt die halbe Welt wegen Corona einsam fühlt, dann ist das natürlich – neben allem, was die Pandemie auch noch anrichtet – eine Katastrophe.
Lux und Kat. Lux bedeutet Licht. Und wenn man im Wörterbuch unter Kat nachschaut, erscheint „aus den Blättern eines afrikanischen Baums gewonnenes Rauschgift“. Wie passend. Lux sucht ihr Licht. Und Kat wird ihr Gift? Zufall oder zu viel Interpretation?
Ha! Das wusste ich nicht, danke für den Hinweis. Das passt ja! Obwohl ich das mit dem afrikanischen Baum nicht so recht mit meinem Roman in Verbindung bringen kann. Mir ging es bei der Namensfindung auch, aber nicht ausschliesslich, um die Tiere mit dem Fell. Und dann gab es noch einen Haufen anderer Assoziationen dazu, Katalysator, Katastrophe, Katharsis, Katatonie, KitKat …
„Das einzige Mittel gegen Angst ist Mut“, steht in Ihrem Roman. Ein Leuchtturm?
Im Roman nimmt dieser Leitspruch ja eher ungesunde Züge an und wird als Gedanke in einem Moment geäussert, in dem die Protagonistin zugekokst ist – würde ich jetzt nicht zu meinem allgemeinen Lebensmotto machen! „Mut“ ist ja sehr deutungsoffen und kann auch fiese Resultate nach sich ziehen.
Welches Buch, welche Musik brannte sich in den vergangenen Monaten unauslöschlich in Sie hinein? Warum?
Wede Harer Guzo von Hailu Mergia/ Dahlak Band – meine Mitbewohnerin hört den Song rauf und runter und wir leben von der Wanddicke her quasi in Schuhkartons.
Und Ágota Kristófs „Das große Heft“ – selten so etwas Grausames und Rührendes gelesen. Zwei Jungen, Zwillinge, die in Kriegszeiten versuchen, sich vorsorglich physisch und psychisch selbst abzuhärten.
Olivia Kuderewski, 1989 geboren, lebt in Berlin. „Lux“ ist ihr erster Roman. Sie hat vergleichende Literatur und Schreiben studiert, volontiert, bisher in wenigen Anthologien veröffentlicht und noch keinen Preis gewonnen.
Beitragsbild © Alain Barbero