Nino Haratischwili ist eine grosse Erzählerin. Sie zeichnet mit satten Farben, komponiert mit ebenso sattem Sound. Und doch ist nichts dick aufgetragen. In Zeiten wie diesen, in denen sich die Gewalt wie ein Schwarm Heuschrecken über ein ganzes Land legt und alles Leben frisst, ist ein Roman wie „Das mangelnde Licht“ die einzig wahre Medizin, die Hoffnung nicht zu verlieren!
Als meine Frau und mich 2014 Nino Haratischwilis 1300 Seiten dicker Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ in die Ferien auf eine Insel in der Nordsee begleitete, rissen wir uns den Schmöker zur Lektüre beinahe aus der Hand. Immer wenn meine Frau eine Lesepause einlegte, schnappte ich mir das Buch – und umgekehrt. Wir waren zwar auf dieser Insel, aber auch auf einer georgischen Reise durch das 20. Jahrhundert, fasziniert, bezaubert, in Leben eingetaucht.
Nach „Die Katze und der General“ erschien nun Nino Haratischwilis dritter monumentaler Roman „Das mangelnde Licht“. Nino Haratischwilis Werk darf aber bei weitem nicht nur an diesen drei dicken Büchern gemessen werden, erschienen doch zuvor schon preisgekrönte Romane und Theaterstücke. Aber so wie die drei dicken Bücher im Regal den Blick auf sich ziehen, so bündeln sie auch die Aufmerksamkeit auf eine Autorin, die zwar in den drei Romanen immer wieder von Georgien erzählt, aber immer wieder aus anderer Perspektive. Georgien und seine Geschichte ist viel mehr als Horizont und Geschichte in allen drei Romanen, die keine Fortsetzungsromane sind und ganz eigene Geschichten erzählen. Georgien ist einer der Protagonisten. Ein Land, das immer wieder von der Geschichte zerrieben wurde.
„Das mangelnde Licht“ erzählt die Geschichte von vier Freundinnen, die jung und voller Pläne waren, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Georgien in einem Vakuum zu versinken drohte, Unabhängigkeitsbestrebungen, kriegerische Auseinandersetzungen, grassierende Korruption das Land in ein Trümmerfeld verwandelten, das zur Spielwiese von Clans mit mafiösen Strukturen wurde. Dina, Nene, Ira – und Keto, die die eigentliche Erzählerin der Geschichte ist, eine Geschichte, die ganz langsam aufbricht, denn Nene, Ira und Keto sind zwei Jahrzehnte nach den Geschehnissen in Tbilissi (Tiflis) nach Brüssel an eine pompöse Ausstellung mit den Fotografien von Dina eingeladen. Schwarzweissfotografien, die das Leben jener Tage abbilden, ihre Freundschaft, ihre Familien, die Gewalt in den Strassen, den Krieg an den Grenzen, ihre Heimat, eine Zeit, die nicht mehr ist und die Frauen an der Eröffnung dieser grossen Ausstellungen zu Objekten macht, denn Dina ist nicht mehr. Dina, die zu einer Ikone der Geschichte wurde, als Fotografin ebenso wie als Kämpferin, überlebte ihren Schmerz nicht. Ihr Tod war damals ein Grund, der die drei anderen Frauen auseinandertrieb und erst an dieser Ausstellung wieder zusammenführt. Eine Ausstellung mit Fotos für die Gäste, Fenster in Abgründe für die drei Frauen, vor allem für Keto, die mich als Leser mit ihren Rückblenden immer tiefer in Geschehnisse mitnimmt, die mir die Geschichten hinter den Hochglanzfotografien erzählen.
So wie der Film „Once Upon a Time in Amerika“ in Hollywoodmanier ein „männliches“ Gangsterepos erzählt, ist „Das mangelnde Licht“ die Geschichte einer Frauenfreundschaft, die an eben solchen Gangsterstrukturen zerbricht. „Once Upon a Time in Georgia“ erzählt aus weiblicher Perspektive die Geschichte von vier Frauen, denen die Freiheit von allen Seiten permanent genommen wird. Sei es vom Staat, von familiären Strukturen und Traditionen, sei es von der Geschichte und unabwendbaren Umständen und Zwängen. Dina, die Fotografin, ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, eine Frau, die letztlich an mangelndem Licht zugrunde geht.
Klar fasziniert die Geschichte, die Dichte all der Binnengeschichten, die Konstruktion des Romans, die Rahmenhandlung ebenso wie all die weitschweifenden Geschichten hinter den Fotografien. Nino Haratischwili schafft es aber auch, dass Georgien, das Land und seine Geschichte, nicht einfach Kulisse ist, Staffage für ein Melodrama à la Hollywood. „Das mangelnde Licht“ bringt Licht in eine Zeit, in Zeiten wie diese, wo durch brutale Angriffskriege Staaten in Schutt und Asche gelegt werden, nicht nur Häuser und Strassen, sondern Strukturen, Kultur, Ordnung und letztlich auch Gesetz. Wo Kriege Leben unwillkürlich auslöschen, Familien auseinandergerissen werden und brutale Gewalt Menschen in ein Leben zwingt, das sie eigentlich verabscheuen.
Nino Haritischwilis literarischer Epos ist ein monumentales Sittengemälde. Ihr Roman wie „Bilder einer Ausstellung“ ein literarischer Gang durch eine Fotoausstellung der besonderen Art. Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.
Ich freue mich auf den Besuch der Autorin an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen!
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr grosses Familienepos «Das achte Leben (Für Brilka)», in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine grosse internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman «Die Katze und der General» stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Heute lebt die Autorin in Berlin.
Beitragsbilder © Dina Oganova