„Ohne Komma“, das erste Buch von Myriam Wahli, das auf Deutsch erhältlich ist, ist ein ganz und gar eigenwilliges Buch. Zum einen die erzählende Perspektive aus der Sicht eines Kindes, zum andern formale Eigenheiten, die nahelegen, dass es der jungen Dichterin um viel mehr geht, als zu erzählen.
Ein Mädchen erzählt von seinem Zuhause, der Familie, dem Dorf, der näheren Umgebung, den Menschen in diesem Dorf, von der Kirche, der Schule. Glaubhaft und nachvollziehbar aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, gelingt nicht oft. Es bedarf einer Sprache, die nachempfinden lässt, was in der noch so unverbrauchten, empfänglichen Wahrnehmung eines Kindes geschieht, um mich als Leser nicht abzuschrecken. Dazu gehört keine kindliche Sprache. Myriam Wahli wertet die Wahrnehmungen ihrer Protagonistin nicht. Keine Interpretationen, keine weitschweifenden Assoziationen, die bei Erwachsenen automatisch zu Filtern werden.
Da erzählt ein Kind von seiner noch kleinen, mitunter sehr engen Welt. Manchmal hatte ich als Leser das Gefühl, jene archaische Welt rücke in einzelnen Bildern tief in Vergangenheiten, weit weg von dem, was das Alter der Autorin vermuten lässt. Aber jenes Dorf, in dem das Leben und immer gleiche Traditionen einem gleichförmigen Takt unterworfen sind, bestimmt auch den Takt des Erzählens. Das Mädchen erzählt von den Schichten, die sich auf alles legen, was die Welt des kleinen Mädchens ausmacht. Nur ganz selten gelingt es Menschen, Momenten und Augenblicken, sich aus diesen Schichten herauszuschälen. Diese Schichten sind keine warmen Decken, sondern ein klebriges Meer aus Unerklärtem, Unverstandenem, Fremden.
Nicht dass sich die Welt des Mädchens gegen sie wendet. Aber niemand bemüht sich, dem Mädchen die Welt zu erklären. Die Erwachsenen sind Fremde, selbst Mutter und Vater, die beide fest in ihrer Arbeitswelt eingespannt sind.
Mit jedem Satz zeichnet das Mädchen die Färbungen und Schatten dieser Schichten. So ist auch jeder Satz ohne Komma durch einen Abschnitt vom vorangegangenen abgesetzt, jeder Satz ein AugenBlick. Das Kind spürt, dass sie es ist, die den Zugang zur Welt der Erwachsenen suchen und finden muss, in eine Welt, in der die Erwachsenen Wörter auf die Dinge legen. Die Erwachsenen haben eine Kommode im Kopf, ein sperriges Ding mit unsäglich vielen Schubladen, wo mit Aufklebern festgehalten ist, was sich darin befinden soll. Wer sich nicht dem Rhythmus, den Traditionen und Regeln des Dorfes und der Kirche unterwirft, bricht den „Schichtenvertag“. Alles muss seine Ordnung haben.
Einzig die Alten scheinen dem Leben das Zugeständnis abgerungen zu haben, sich nicht mehr gänzlich einfügen zu müssen. Zum Beispiel Rossé, der Alte mit Lockenmähne und grauem Bart und den Bienenvölkern, von denen er erzählt.
Beeindruckend ist die verknappte Sprache. Obwohl einzelne Sätze lang sind, hat ihre Sprache nichts Ausuferndes. Es sind Sätze voller Klarheit, voller Schönheit. Jeder Satz eine Miniatur, die durch kein Komma unterbrochen werden will. Myriam Wahli bringt eine Leichtigkeit in ihr Erzählen, die die harten Konturen der Wirklichkeit mit dem kindlichen Sehen aufweicht. „Ohne Komma“ ist ein Sprachkunstwerk.
Myriam Wahli wurde 1989 in einem Industriegebiet im Berner Jura geboren. Sie zeigt Filme in Bergdörfern, studiert die Kunst des Shiatsu, betreibt wildes Gärtnern, umarmt Bäume und versucht hartnäckig, ihr Leben zu einer geraden Linie zu machen, die am Ende immer in eine Kurve mündet. 2018 wurde sie mit dem Stipendium von Fell-Doriot ausgezeichnet.
Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen. 2019 erhielt er von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung.
Beitragsbild © Tonatiuh Ambrosetti