Mein Highlight an der BuchBasel 2018

Warum nach Basel an das Internationale Literaturfestival? Wegen der Preisverleihung? Nein. Wegen der internationalen Gäste? Schon eher, bemüht sich die Festivalleitung doch sehr, aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen eine Bühne zu geben, sei es mit Diskussionsrunden oder Schreibenden, die sich engagiert mit Konflikten, möglichen Antworten und deren Auseinandersetzung stellen. Aber ein Grund; Jedes Jahr Überraschungen und Entdeckungen.

Peter Stamm ist neu gekührter Buchpreisträger mit seinem Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (Rezension vom 1. April 2018 auf literaturblatt.ch). Das ist gut so – und keine Überraschung. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wird bleiben und nicht einfach im Meer der Neuerscheinungen langsam verschwinden. Dereinst wird dieses Buch in Schulen gelesen werden wie man es mit «Agnes» tut, Peter Stamms vor genau 20 Jahren erschienen erstem Roman. Man wird ihn lesen, weil die beiden Bücher miteinander korrespondieren, das eine irgendwie zum andern gehört.

Das alleine ist aber kein Grund, das Buch zum besten deutsch geschriebenen Werk 2018 zu erklären, zumal die Konkurrenz in diesem Jahr sehr gut und ebenfalls preiswürdig gewesen wäre. «Ein vielschichtiger Doppelgänger-Roman, in dem sich zwei Künstlerpaare ineinander spiegeln. Im Innersten dreht sich das Buch um die wirklichkeitsstiftende Kraft des Erzählens – und funktioniert zugleich so spannend wie ein Kriminalroman. Wir sind die Geschichten, die wir uns erzählen. Peter Stamm führt uns in ein virtuos konstruiertes Labyrinth, in dem wir uns glücklich verlieren», heisst es in der Begründung der Jury.

In Peter Stamms Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Doch in meinem Bücherkoffer, den ich im Zug von Basel mit nach Hause schleppte, wartete ein ganz besonderer Schatz darauf gelesen zu werden. Als ich auf den Büchertischen im Volkshaus Basel stöberte, fiel mein Blick auf einen grauen Schuber mit fünf verschiedenen Büchern, bei denen man erst es sich erst auf den zweiten Blick bestätigte, dass sie vom selben Autor geschrieben wurden. Fünf Bücher, eine Enzyklopädie, eine Erzählung, ein Notizheft, eine Audiotranskription und ein Comic (jener gezeichnet von Raffaela Schöbitz). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» (Suhrkamp) heisst das Panoptikum, das Konvolut an Texten, Illustrationen, Berichten, Zeichnungen. 1000 Seiten, von denen der Autor Philipp Weiss meint, es gäbe keinen Anfang, an dem man mit der Lektüre beginnen müsse, weder eine chronologische, oder sonst logische Linie, der man folgen müsse. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine literarische Welt, in die man abtauchen kann, die übersprudelt von Ideen, Querverweisen, sprachlicher Vielfalt, Überraschungen und optischem Genuss.

Manchmal zwingt mich einer meiner erwachsenen Söhne, wenn er in meiner Gegenwart am Computer spielt, versuchsweise auch zum Spieler zu werden. Eines dieser neuen Spiele heisst «red dead redemption II», eine Westernwelt im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Ein Spiel, von dem mein Sohn sagt, man können jederzeit irgendwo einsteigen und spielen, ob man nun einer Spur folge oder sich von der Lust leiten liesse.
Genauso scheint «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» zu funktionieren. Eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im «ewigen» Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf die Suche nach Spuren macht und von Jona, dem von Chantal verlassenen Künstler, der sich auf die Suche nach Chantal macht und in Japan ein Land findet, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

«Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine Reise, eine 1000 Seite lange Reise, auf die ich mich freue, von deren Erlebnissen ich mit Sicherheit noch berichten werde, weil Philipp Weiss zusammen mit der Künstlerin Raffaela Schöbitz etwas schuf, was einmalig, extravagant, kühn und intelligent ist!

Buchtrailer

Philipp Weiss, geboren 1982 in Wien, studierte Germanistik und Philosophie. Er schreibt Prosa und Theaterstücke, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 nahm er mit seinem Text «Blätterliebe» am Ingeborg-Bachmann-Preis teil. 2011 gewann er mit seinem Stück «Allerwelt» das Hans-Gratzer-Stipendium; das Stück wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt, wo er in der Spielzeit 2013/14 Hausautor war. «Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne» gewann 2015 den Preis der Theatertage Lyon und erschien auf Französisch in den Éditions Théâtrales (Montreuil). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist sein Romandebüt.
Webseite des Autors

Raffaela Schöbitz, geboren 1987 in Korneuburg, hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien sowie Filmwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Sie arbeitet als freischaffende Autorin, Dramatikerin und Illustratorin, u. a. für Revolver. Zeitschrift für Film und Deadline. Das Filmmagazin, und ist Teil des nicht.THEATER-Ensembles. Ihre Theaterstücke, «Zugvögel» (2014) und «Im Mutterbauch war’s früher besser» (2015), werden vom Kaiser Bühnenverlag vertreten. Daneben hat sie Kinderbücher verfasst, u. a. «Knollnase» und «Roboter haben’s auch nicht leicht», deren Illustrationen ebenfalls aus ihrer Feder stammen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem DIXI Kinderliteraturpreis für Illustration (2015) und mit Stipendien des BKA Kunst und Kultur (2016 & 2017). 2017 war sie Stipendiatin der Peter Suhrkamp Stiftung. Ihre Bilder sind oft Mixed-Media-Collagen, ansonsten arbeitet sie häufig mit Tusche, Wasserfarben, Kohle und Buntstiften.
Webseite der Künstlerin