Marijke Schermer «Sozusagen Liebe», Kampa

Auch wenn «Sozusagen Liebe» nie rosa schimmert und ich als Leser in die Wirrungen einer sich auflösenden Familie hineingezogen und gezwungen werde, all den Schmerz, der sich in diesem Roman offenbart, zu begleiten, ist der Roman eine Liebesgeschichte. Darüber was passiert, wenn man sich vergisst!

Definitionen der Grenze zwischen Verliebtheit und Liebe trauen wir uns sehr wohl zu. Aber wo hört Liebe auf und wird zum reinen Arrangement? Was in Liebe beginnt mit Treueschwüren „bis dass der Tod uns scheidet“ und der Unvorstellbarkeit, dass es einmal anders, ganz anders sein könnte, schleicht sich aber allzu leicht in einen Zustand gegenseitiger Abmachungen und zu erfüllender Erwartungen, bis man an einem gewissen Tag, einer Lebensituation oder ganz einfach im trügerischen Gefühl des Erwachens glaubt, etwas versäumt zu haben, auf dem falschen Weg zu sein, die entscheidende Abzweigung verpasst zu haben. Marine Schermer wagt es, genau eine solche Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die tausendfach passiert, die keine Liebesgeschichte mehr ist, sondern die Geschichte von Verrat, Enttäuschung, tiefen Ängsten und der drohenden Einsicht, während Jahren oder Jahrzehnten das falsche Leben geführt zu haben.

Marijke Schermer «Sozusagen Liebe», aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, 2021, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10063-8

Terri und David sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Ein Haus, Kinder und vorgezeichnete Bahnen. Bis sich Terri aus latenter Unzufriedenheit in einen anderen Mann verliebt – oder zumindest mit aller Kraft hingezogen fühlt. Denn Lucas ist so ganz anders als David, sei es im Drang, sich trotz aller Leidenschaft nicht zu binden oder in der Lust, auf dem Spielfeld seiner Leidenschaft alles auszuprobieren, auch mal die Sau rauszulassen. Und weil Terri unter dem permanenten Druck von Erwartungen und Verpflichtungen leidet, ausbrechen will, selbst aus ihrer Mutterrolle, stellt sie Ehemann und halbwüchsige Kinder vor vollendete Tatsachen und beschliesst Trennung und Scheidung. David ist am Boden zerstört, ahnt dass er Signale nicht wahrhaben wollte. Und als Krista, die eben erst die romantische Liebe mit Rafik entdeckt, im versehentlich liegen gelassenen Telefon ihrer Mutter das hemmungslose Hinundher zwischen ihrer Mutter und ihrem Lover zu lesen bekommt, droht auch der Rest von Familie und Zuhause zu zerbrechen.

«Sozusagen Liebe» ist kein Bericht aus dem Kriegsgebiet einer Kampfscheidung. Die Liebe in den beiden ist nicht gelöscht, aber von Bedürfnissen überlagert, die sich mit den tiefen Schichten darunter nicht mehr vereinbaren lassen. Der Roman beschreibt den Vorgang der ausbrechenden Entfremdung, die Trennung von jenem Moment weg, wo es kein Zurück mehr geben kann. Marijke Scherrer ist eine feine Beobachterin, die mit einem analytischen Gespür in Wunden bohrt, bis es weh tut. Aber ihr Drang in Tiefen vorzudringen entspringt nicht dem Bedürfnis des Sezierens, des Entblössens. Terri und David können nicht mehr verstehen. Und Marijke Scherrer will mit ihrem Schreiben jene Mechanismen verstehen, die ablaufen, wenn der Stein, der Fels ins Rollen gebracht wurde, wenn das, was geschieht, nur mehr eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzieht.

Dass der Roman beim Schreiben dieser Rezension beim Buchhaus Lüthy-Balmer-Stocker den Verkaufsrang 6978 einnimmt, ist frustrierend – aber vielleicht der Beweis dafür, dass sich Leser:innen nicht gerne in Abgründe ziehen lassen wollen, in Kämpfe, aus denen schlussendlich nur Verlierer:innen resultieren. «Sozusagen Liebe» moralisiert in keinem Satz und doch mahnt einem der Roman, die Liebe nicht als Fundament zu sehen, sondern all das, was man für sie investieren muss, dass sie bleibt.

Lesen!

Marijke Schermer wurde 1975 in Amsterdam geboren, wo sie auch heute noch als Dramatikerin und Autorin lebt. Ihr Roman Unwetter wurde von der Kritik hymnisch gelobt, NRC Handelsblad nannte ihn «einen Roman, der keine Wünsche offen lässt», Trouw setzte noch einen drauf: «Ein explosives Thema, ein überraschender Höhepunkt und zutiefst menschliche Figuren. Marijke Schermer hat den perfekten Roman geschrieben.»

Hanni Ehlers, geb. 1954 in Ostholstein, studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u.a. Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.

Beitragsbild © Tessa Posthuma Boer