Dorothy Gallagher „Und was ich dir noch erzählen wollte“, aki

Dieses Buch ist weder Abrechnung noch ein Versuch, Ordnung in eine Beziehung zu bringen, die durch den Tod ein jähes Ende fand. „Und was ich dir noch erzählen wollte“ ist eine zarte Liebeserklärung über den Tod hinaus. Das Buch selbst ein Geschenk!

Ich lebe seit 40 Jahren mit meiner Frau zusammen, mit allen Krisen, die ein so langes Experiment birgt. Nach der Lektüre von Hansjörg Schertenleibs Novelle „Die Fliegengöttin“ fragte ich sie, wie es wohl sein würde, wenn jemand von uns sterben würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis uns beide gleichzeitig dem irdischen Dasein entreissen würde, ist verschwindend klein. Irgendwann würde der Moment da sein, wo entweder sie oder ich allein zurückgelassen sein und einer von uns erwachen würde, mit einem Mal unwiederbringlich darüber im Klaren, wen und wie viel man verloren hatte. Ich lebe mit einer an Naivität grenzender Selbstverständlichkeit, dass immer alles so bleiben wird, wie es jetzt ist, dass selbst Krisen bewältigt werden können. Aber dass mit dem Tod des Gegenübers, mit dem man Jahrzehnte teilte, alles mit einem Mal ganz anders wird, blende ich tunlichst aus.

Dorothy Gallangher „Und was ich nocherzählen wollte“, aus dem Afrikanischen von Monika Baark, 2021, 128 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-311-35002-6

Dorothy Gallagher ist ein Leben lang Fotografin und Autorin, eine Frau, die ihre Welt ganz genau wahrzunehmen versucht und alles zum Anlass nimmt, ihr Tun, ihr Denken zu reflektieren. Das tat sie auch, als sie nach einem Vierteljahrhundert Ehe mit ihrem Mann die Wohnung in New York räumen musste, weil sie wusste, dass sie ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes nicht einfach so würde weiterführen können. So „kreativ“ dieses Leben, der Austausch zwischen den beiden war, so erschöpfend die Krankheit ihres Mannes (Multiple Sklerose) in den Jahren vor seinem Tod, die immer wieder aufflammenden Hoffnungen und die Einsicht, dass ihr Mann immer weniger werden würde, sein Sterben schon lange vor seinem Tod begonnen hatte. Und weil eben in der Zeit nach dem Tod ihres Mannes ein Buchprojekt seinen Abschluss fand und die schreibende Auseinandersetzung zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden war, begann sie in den Monaten nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung aufzuschreiben. „Und was ich dir noch sagen wollte“ ist daraus geworden.

Keine rührselige Abschiedsrede, keine schmerzerfüllte Reflexion über ein gemeinsames Leben, das der Tod ihr genommen hatte. So wie die Partnerschaft mit ihrem Mann stets ein Leben des Gegenseitigen war, so sehr bleibt es das auch über den Tod hinaus, auch wenn die Schreibende nur mehr den Nachhall jener Stimme hört, die sie ein Leben lang begleitete. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist durchsetzt von Liebe und Respekt. Selbst scheinbar Banales wird zum Geheimnisvollen, zu einer Offenbarung. Das schmale Büchlein ist eine Liebeserklärung an das Abenteuer einer Langzeitbeziehung. Ein Buch, das einem einen Abend lang lesend und dann mit Nachhall zu wärmen weiss, ein kleines Geschenk!

Dorothy Gallagher wurde 1935 als Tochter russisch-jüdischer Emigranten in New York geboren. Die Welt ihrer Kindheit in Washington Heights war bunt und wild: Im Wohnzimmer hing ein Porträt von Lenin, den sie für ihren Grossvater hielt. Obwohl ihre Eltern grösste Vorbehalte gegen alles Bourgeoise hatten, wurde die kleine Dorothy für Partys bei Macy’s eingekleidet. Behalten durfte sie die Kleider natürlich nicht, nach der Party wurden sie wieder zurückgebracht. Ihr Studium konnte Gallagher nicht beenden, weil sie vom College geschmissen wurde. Eine ganze Weile schrieb sie Artikel über die Welt der Reichen und Schönen, um sich finanziell über Wasser zu halten, ehe sie schliesslich Redakteurin beim Magazin Redbook wurde und als Journalistin reüssierte. Später machte sie sich selbstständig, schrieb u.a. für die New York Times und Grand Street. Zu ihren Büchern zählen das Memoir Life Stories, Hannah’s Daughters, ein Bericht über eine matrilineale Familie, und All the Right Enemies, die Biographie des italienisch-amerikanischen Anarchisten Carlo Tresca.

Monika Baark, geboren 1968 in Tel Aviv, gehegter Migrationshintergrund, studierte in Heidelberg Anglistik und Kunstgeschichte. Sie lebt in Berlin und im Wendland. Ins Deutsche übertragen hat sie unter anderem Werke von Margaret Atwood, Vendela Vida und Sheila Heti. Die Übersetzung von Dorothy Gallaghers Buch lieferte ihr den erneuten Beweis, dass sich die Menschheit in drei Lager teilt: Hundeliebhaber, Katzenliebhaber – und Hunde- und Katzenliebhaber.

Beitragsbild © Lisa Silvestri