Wie filigran die Normalität ist, wie leicht scheinbare Harmonie in Schieflage geraten kann und wie nagend und zerstörerisch Schuldgefühle sein können, davon erzählt Jessica Linds Roman „Kleine Monster“. Familie ist alles. Aber eben nicht nur im Guten.
Pia und Jakob werden für ein Gespräch in die Schule geordert. Man glaubt, dass es zwischen Luca, ihrem Sohn, und einem Mädchen in der gleichen Klasse zu einem Übergriff gekommen sein muss. Luca ist sieben und ein „lieber Junge“. So sehr Jakob davon überzeugt ist, dass das, was zwischen den Kindern vielleicht passiert war, nur eine Bagatelle sein kann, so sehr lässt sich Pia verunsichern, weil sie nicht erst seit diesem Vorfall und der Verstocktheit ihres Sohnes, der Weigerung, endlich zu erzählen, was in jenem unbeobachteten Moment passiert war, spürt, dass der Anteil dessen, was ihr an ihrem Sohn fremd, immer grösser wird. Es wächst die Erkenntnis, dass ihr Sohn mehr und mehr ein eigenes Leben führt, dass der Anteil an deckungsgleichem Leben, an Harmonie und totaler Verbundenheit immer kleiner wird. Da wächst ein Mensch, der eigenständig wird, mit all dem Hellen und Dunklen.
Pias Verunsicherung gründet in ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihrer Familie, ihrer Kindheit, jenem einen Trauma, jenem einen Tag, den die Familie damals zerriss. Was mit Luca passiert, spiegelt die Verwundung aus einer Zeit, die sie lange überwunden glaubte. Pias Eltern wollten Kinder. Weil der Kinderwunsch aber nicht gleich in Erfüllung gehen wollte, entschlossen sich ihre Eltern zu einer Adoption, obwohl sich dann doch noch Kindersegen einstellte. So hatte Pia eine grosse Schwester, Romi – und etwas später gar eine kleine Schwester, Linda. Bis zu jenem Tag, als Pia krank zuhause war. Romi und Linda liefen in den Wald hinterm Haus, zum kleinen See. Pia wunderte sich noch über eine offen gelassene Haustür, dass niemand mehr zuhause war und Romi plötzlich ohne Linda nach Hause kam, alles drunter und drüber ging, Vater und Mutter am Abend am Tisch weinten und man ihr erklärte, es wäre etwas Schlimmes passiert. Linda sei ertrunken.
Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf die Einsicht, dass sich selbst in kleinen Kindern kleine „Monster“, Ungeheuerlichkeiten verbergen können. Viel mehr sind es die kleinen Monster in jedem von uns, die uns blenden, verleiten, die uns Dinge tun lassen, die wir sonst so niemals gedacht oder getan hätten, die die Wahrnehmung verzerren und uns zu Handlungen nötigen, die eigentlich nicht unserem Naturell entsprechen.
Pia sieht in ihrem Sohn ihre kleine Schwester, einen Engel, der ein Geheimnis birgt. Gleichzeitig spült die Verstimmung zwischen Pia und ihrem Sohn Luca ein altes Schuldgefühl hoch.
Pias Mutter liebte ihre Kinder alle, wenn auch die leiblichen anders wie das adoptierte. Die drei Schwestern empfanden sich stets als Einheit und Linda tat alles, um ihrer grossen Schwester Romi zu gefallen. Mit jener Katastrophe zerbrach, was zuvor fast alles ausmachte; jenes untrennbare Dreiergespann, die Liebe ihrer Mutter, die in masslose Strenge kippte und nicht zuletzt die Ehe zwischen den Eltern. Irgendwann verschwand Romi aus der Familie, weil man sie für den Tod der Jüngsten verantwortlich machte, weil jener schwarze Tag den Eltern die Gewissheit brachte, einen Kuckuck ausgebrütet zu haben, die drohende Katastrophe nicht früh genug erkannt zu haben.
Zwar weiss Pia auch als Erwachsene von Romi, die mittlerweile zu einer erfolgreichen Influenzerin geworden ist, aber da ist nicht mehr, keine Verbindung. Genauso wie zu den Eltern, die zwar da sind, aber hinter dem schweren Vorhang des Schweigens verborgen.
Mit dem Konflikt Mutter Sohn bricht auf, was im Untergrund über Jahrzehnte mottete. Warum fühlt man sich so sehr ausgeschlossen von der Welt der Nächsten? Warum hat man so wenig Einfluss auf die Reaktionen dessen, was ein Unglück auslöst? Jessica Lind verwebt geschickt zwei Handlungsstränge, die sich gegenseitig spiegeln, die sichtbar machen, wie sehr man geführt, geleitet und bestimmt wird von Erfahrungen und Erlebtem aus der Vergangenheit. Jessica Lind erzählt, ohne zu psychologisieren, ohne die Szenerie über die Massen aufzuladen. Aber weil die Autorin durch ihre Erfahrungen als Drehbuchschreiberin sehr gut weiss, dass gut dosiertes Erzählen reicht, um im Kopf von Leserinnen und Lesern Kaskaden von Deutungen auszulösen, leuchtet die Autorin mit Bedacht aus.
„Kleine Monster“ ist auch ein Roman über das überstrapazierte Soziobiotop Familie. In diesem kleinen, vermeintlich stillen See blubbert es ganz ordentlich aus dem Untergrund. Ein Roman, der mich begeisterte!
Interview
Ich verstehe meine Texte immer als Einladung an die Lesenden, mitzufabulieren. Dafür arbeite ich sehr gerne mit Leerstellen, Versatzstücken aus der Mythologie und auch Metaphern. Ich freue mich also, wenn der Titel auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann. Auch das Cover, auf dem eine Kinderhand die Idylle durchbricht, hat einen doppelten Boden. Ihre Interpretation trifft den Kern der Erzählung sehr gut, wenn wir uns nicht mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, wird sie uns irgendwann einholen.
Mir ist es sehr wichtig, meinen Kindern die Freude am Lesen zu vermitteln. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt und ich hoffe, dass sie zu neugierigen Lesern heranwachsen werden. Bücher sind eine hervorragende Übung zur Empathiebildung und ermöglichen in ganz verschiedene Lebensrealitäten einzutauchen. Ich bin gespannt, in welchem Alter sie sich für die Probleme meiner Hauptfigur interessieren werden.
Für meine Arbeit sind Familien vor allem ein wunderbares Experimentierfeld. Die Familie ist eine Kernzelle, in die sich von aussen schwer hineinschauen lässt, die einzelnen Rollen sind stark aufgeladen – jede*r hat eine Vorstellung davon, wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater zu sein hat. Diese grosse Nähe ist auch ein idealer Nährboden für alles Unheimliche, was ja meinem Schreiben auch innewohnt. Politisch betrachtet, finde ich es immer wieder Schade, wie eng Familien gedacht und wie sehr sie dazu benutzt werden, Entscheidungen auf die individuelle Ebene abzuwälzen, Stichwort Kinderbetreuung.
Was mich seit meinem ersten Roman sehr beschäftigt, sind Rollenbilder. Welche Erwartungen an eine Rolle sind in uns eingeschrieben? Und was passiert, wenn sie nicht erfüllt werden? Dabei braucht es die Verurteilung von aussen nicht einmal unbedingt, weil wir selbst streng mit uns ins Gericht gehen. Die Rolle des Vaters hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr verändert, als die der Mutter. Väter werden immer mehr in die Erziehung eingebunden. Dadurch ist das klassische Rollenbild aufgebrochen und mir kommt es vor, als könnten sie freier agieren. Zum Beispiel, bringt der Vater das Kind zu spät in den Kindergarten, wird er trotzdem gelobt, weil er sich kümmert. Ist die Mutter zu spät dran, hat sie ihr Leben nicht im Griff. Das ist natürlich überspitzt formuliert – aber ich schaffe ja auch in meinen Romanen Situationen, die die Figuren über ihre Grenzen hinaustreiben.
Ich glaube, der Unterschied zwischen Fiktion und Autofiktion ist gar nicht so gross. Von der „Realität“ ist beides entfernt, weil ja jeder Roman gestaltet wird. Der Unterschied liegt im Material, benutze ich Selbst-Erlebtes, bediene ich mich an Fabeln oder mache ich eine ausgiebige Recherche und verwende die gewonnenen Erkenntnisse, um daraus meine Geschichte zu bauen? Beipackzettel halte ich für unnötig, weil ja so oder so das Ergebnis tragfähig sein muss.
Jessica Lind, 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren, lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film «Rubikon«. 2015 gewann sie mit der Erzählung «Mama» den open mike, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging.
Beitragsbild © Pamela Russmann