Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!
Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!
„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“
Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten.
Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.
Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.
„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!
Wir sehen uns im Ausgeschossenen Auge!
Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.
Rezension «Der Besuch von Herrn Horváth» auf literaturblatt.ch
Rezension «Nachtgestalten» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Vojtěch Veškrna