Zu Ivo Ledergerbers 80sten Geburtstag macht sich der Autor ein Geschenk: 51 Gedichte, die sich in den letzten Jahren ansammelten, nicht zuletzt in seinem «Ivo-Blog», auf dem der Dichter jede Woche ein Gedicht veröffentlicht. So war der «Raum für Literatur» in der St. Galler Hauptpost restlos besetzt, als der Autor zusammen mit seinem Dichterfreund Richard Butz seinen neusten Gedichtband aus der Taufe hob.
Ivo Ledergerber grübelt gerne, hängt seinen Gedanken nach, erst recht mit 80, in einer Lebensphase, in der man Zeit hat, Zeit, die endlich wird. Liebe und Tod sind denn auch die Pole, zwischen denen der Leser pendelt, von einem Anfang her zu einem Ende hin, von beiden nur ahnend. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit sei ein Teil dieses Pendelns. Es sei in seinem Alter unmöglich so zu tun, als betreffe einem das nicht.
Viele Gedichte entstanden aus dem Moment, mitgenommen von Spaziergängen, Augenblicken, nach innen und nach aussen. Sprachskizzen, Zeichnungen in Worten, als wäre er kurz in der Zeit stehen geblieben, um den Moment mit Sprache einzufangen.
Dreiweihern
Auf dem Balkon über dem Pissoir
eine tote Fliege
auf dem Rücken
die Beine gereckt
betend
voller Inbrunst
schöner ist nicht
für den Sommer zu danken
Er brauche Anfänge, an die sich weitere Sätze heften, immer mehr, bis sich nach dem Sammeln der Kamm über den Text hermacht und hinausstreicht, was nicht passt oder schlicht zu viel ist. In seinen Gedichten spiegeln sich aber nicht bloss Augenblicke und Ein-Sichten, ebenso sehr Schreib- und Entstehungsprozesse, die weit über das «Dichten» hinausgehen. So wie der Vogel am Waldweg, die tote Amsel ihn im Schreiben festhält, so verhilft er dem toten Vogel noch einmal zu einem wortgewaltigen Höhenflug.
«Wir verschwinden lesend in unsterblichen Texten.»
Und doch ist den Gedichten das Alter des Dichters anzumerken, was auch so sein soll, wenn zwischen Wehmut, hinter lauten Sätzen, die Demut glänzt. Er fliegt mit Dohlen über Schluchten und Berge, huldigt der Freiheit des Denkens mit Sprache, die ihn durch die Lüfte trägt.
Von den Dohlen
Von den Dohlen sagt man
sie hätten gesehn
wie es war bevor wir kamen
und sie sähen
was wie nicht kennten
sie wüssten wohin
Wege führen
die wir noch lange nicht kennten
an die Orten die wir nicht nennten
Ihre Flügel sagt man
trügen sie in Höhen
wo unsereinem nur schwindelt
ihr Mut aber
der sei grenzenlos groß
sie lassen von Stürmen
sich treiben
wie Nebelfetzen ein verirrtes Blatt
lassen wir wirbeln werden nicht matt
Von den Dohlen sagt man
sie eine so frei
wie wir es uns träumen
und selten gestehn
während sie getragen
vom wilden Wind
die Freiheit
erleben die wir nicht mehr wagen
obwohl der Geist auch uns würde tragen
(beide Gedichte mit freundlicher Genehmigung des Autors aus «Alltagsgrübeleien» von Ivo Ledergerber, Waldgut Verlag, 2018)
Schon erstaunlich, wie viele Menschen Ivo Ledergerber mit seiner Lyrik in die Hauptpost St. Gallen zu locken vermag, wo doch wenige Tage zuvor die grosse Dichterin und Essayisten Monika Rinck anlässlich des Literaturfestivals Wortlaut nur einen kleinen Bruchteil dessen in den «Raum für Literatur» mobilisieren konnte.
Beitragsbild © Sandra Kottonau