Ira Cohen (1935 – 2011), zum 10. Todestag des US-amerikanischen Dichters

Am 25. April 2021 vor zehn Jahren starb in New York City der Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935 – 2011). Aus diesem Anlass publiziert das Literaturblatt hier aus Ira Cohens Gedichtband WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) das Poem PEPE LE MOKO / PEPE LE MOKO LEBT. 

Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur

PEPE LE MOKO LIVES

for Yasha & Gherasim Luca

I would like to write a poem in French
as if I were a man with only one arm
returning from an alligator hunt
in the sewers of New York
It should be avant-garde as a menu
& could be titled Service Non Compris,
something really soulful
like the howl of a wolf
looking for food in the streets
of Paris during that terrible winter
when François Villon died
The poem should contain the black
lunettes worn by God
to protect Himself from his admirateurs,
O Mon Dieu, a poem without price
written for an audience not for sale,
something unforgettable as white
                                     excrement,
something with panache
and the taste of next year’s
Beaujolais
It should also be practical
as selling chemicals for poison gas
to Saddam Hussein
or arms to both sides
during a civil war in a backward country
                                     like Rwanda
Long live Haute Couture
Like a whore I want to please you
I would like to write a poem in French
which would last forever,
not a button without a buttonhole,
something logical & purposeful,
something mesmerizing & really feminine
                                   with no regrets
like the high kick of a cancan dancer
exposing everything just for fun
Like Boris Vian
I would like to spit on your grave
Artaud, Cocteau, Crapaud
Vive la France
The Power & The Glory
Let there always be injections
of surrealist intelligence
March on   March on
Long live Hemophilia!

 

PEPE LE MOKO LEBT

für Yasha & Gherasim Luca

Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch
wie ein Mann, der einarmig
von der Alligatorenjagd aus New Yorks
Kloaken zurückkehrt
Avant-garde sollte es sein wie eine Speisekarte
& sein Titel könnte Service Non Compris lauten
etwas so voller Seele wie
das Heulen eines Wolfs
der auf den Strassen von Paris
nach Fressbarem sucht in jenem fürchterlichen
Winter, als François Villon starb
Das Gedicht sollte die schwarzen
Lünetten besingen, die Gott zum Schutz
vor Seinen Admirateurs trägt
O Mon Dieu, ein unbezahlbares Gedicht
für ein Publikum geschrieben, nicht für den Verkauf
etwas so Unvergessliches wie weisse
                                     Exkremente
etwas mit Panasch
und der Blume vom nächstjährigen
Beaujolais
Ein Gedicht mit so viel Zündstoff
wie wenn man Chemikalien zur Giftgasproduktion
an Saddam Hussein
oder in einem Bürgerkrieg Waffen
an alle verfeindeten Parteien verschachert
in einem rückständigen Land
                                     wie Ruanda
Lang lebe die Haute Couture
Wie eine Hure will ich dich bedienen
Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch
eines, das Bestand hat
keinen Knopf ohne Knopfloch
etwas Zweckmässiges & Logisches
etwas Mesmerisierendes & echt Feminines
                                     ohne Reue
wie eine Cancan-Tänzerin ihre Beine hochwirft
& alles ausstellt, ein Heidenspass
Wie Boris Vian
würde ich gern auf eure Gräber spucken
Artaud, Cocteau, Crapaud
Vive la France
Die Macht & Die Herrlichkeit
Niemals soll es an Spritzen
surrealistischer Intelligenz fehlen
Marchons   Marchons
Lang lebe Hämophilia!

aus dem Privatarchiv von Florian Vetsch

Ira Cohen (1935 – 2011) war ein US-amerikanischer Dichter, Fotograf und Filmemacher aus der Post-Beat-Ära. Sein Werk verarbeitet Elemente aus dem Dadaismus, dem Surrealismus, der Beat Culture sowie der ganzen Weltliteratur; Brion Gysin, den Erfinder der Cut-up-Schreibmethode, bezeichnete er als seinen grössten Inspirator. Ira Cohen wuchs in der Bronx von New York City als Kind tauber jüdischer Eltern auf. Er verbrachte die 1960er Jahre in Marokko und Amerika, die 1970er Jahre in Kathmandu, Nepal, dann kehrte er, nach einem dreijährigen Aufenthalt in Amsterdam, nach New York City zurück, wo er bis zu seinem Tod, unterbrochen von vielen Reisen, lebte.

Ira Cohen ist der Inventor der Mylar-Fotografie, einer fotografischen Zerrspiegeltechnik, mit welcher er in seinem psychedelischen Experimental-Streifen THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) arbeitete und u.a. Persönlichkeiten wie William S. Burroughs, Pharoah Sanders, Jack Smith oder Jimi Hendrix porträtierte. In der Fulgur Press, New York City, erschien 2019, herausgegeben von Allan Graubard, INTO THE MYLAR CHAMBER, eine umfassende Würdigung von Ira Cohens Mylar-Arbeiten, mit Beiträgen von Ian MacFadyen, Thurston Moore, Ira Landgarten, Alice Farley and Timothy Baum. Cohens Film KINGS WITH STRAW MATS (1998) zeigt Cohen in Hardwar, Indien, zwei Mal an einem Kumbh Mela Festival, dem weltweit grössten religiösen Fest, das nur alle zwölf Jahre stattfindet; der Film kann auf YouTube zur Gänze angeschaut werden.

Cohen wirkte nicht zuletzt als Herausgeber; berühmt geworden sind seine in Kathmandu mit einer Reispapier-Handpresse hergestellten Bücher und Einblattdrucke mit Texten von Angus MacLise, Paul Bowles, Gregory Corso, Diane DiPrima, Charles Henri Ford u.v.a.m. – lauter Preziosen; legendär war bereits GNAOUA, das Magazin, das Cohen in Marokko zusammengeschlagen und 1966 in Brüssel herausgegeben hatte, mit Beiträgen u.a. von Allen Ginsberg, Brion Gysin, Michael McClure, Harold Norse und Ian Sommerville.

Ira Cohen war ein charismatischer Performer, der ohne Schwierigkeiten auch ein grosses Publikum zwei bis drei Stunden lang unterhalten konnte und zahllose Lesungen von Okinawa bis Leukerbad, von San Francisco bis Tanger gab; seine mesmerisierende Stimme halten mehrere CDs seit 1994 fest, als THE MAJOON TRAVELER – THE POETRY OF IRA COHEN (Sub Rosa, Brüssel) erschien, eine Kollaboration mit DJ Cheb i Sabbah, welche auch Klangmaterial von Don Cherry, Ornette Coleman und marokkanischen Jilala-Trancemusikern präsentiert. Der Multimedia-Schamane Ira Cohen veröffentlichte seine Poesie in ungezählten Little Mags und mehreren Gedichtbänden, die meisten davon in rar gewordenen Ausgaben, zuletzt POEMS FROM THE AKASHIC RECORD (Panther Books, New York City 2001), WHATEVER YOU SAY MAY BE HELD AGAINST YOU (Shivastan Press, Woodstock 2004), CHAOS AND GLORY (Elik Press, Salt Lake City 2004), GOD’S BOUNTY (Elik Press, Salt Lake City 2008) und die zweisprachige Ausgabe WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010); postum erschienen Gedichte von Ira Cohen in A NIGHT IN ZURICH (Gonzo, Mainz 2018), einer bunt illustrierten Kollaboration von Jürgen Ploog und Florian Vetsch, und im zweisprachigen Gedichtband ALCAZAR (Moloko Print, Schönebeck 2021).

The Ira Cohen Archive LLC 

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

«Ich bin nur ein Schatten / der im Gras spielt» Würdigung im SAITEN vom 25. April 2021 von Florian Vetsch

Beitragsbild: Ira Cohen, Zürich, September 2000, Foto © Florian Vetsch