Eigentlich war der Plan, zusammen in Maine den Lebensabend zu verbringen, sie die ehemalige Polizistin Corinna Holder und ihr Mann Michael. Aber nach einem schrecklichen Polizeieinsatz, einem Ausraster und dem plötzlichen Unfalltod ihres Mann ist nichts mehr so, wie es sein sollte.
Eigentlich lese ich keine Krimis. Krimis müssen mir förmlich ans Herz gelegt werden, damit ich zu lesen beginne. Geschichten, bei denen es bloss um ein rätselhaftes Verbrechen geht, in dem genüsslich geschändet und gemordet wird und ich als Leser zum Voyeur werde, interessieren mich nicht. Ebenso wenig die schrulligen Kommissare, die sich nach der Pensionierung in polizeiliche Ermittlungen einmischen und mit markigen Sprüchen den Plot weichklopfen.
Obwohl auch Hansjörg Schertenleibs Krimi Klischees bedient, zolle ich ihm grossen Respekt, denn der Krimi spielt sich viel mehr in und um die Figur der Ermittlerin Corinna Holder ab, als um ein brutales, rätselhaftes Verbrechen.
Corinna Holder ist nach einem traumatischen Polizeieinsatz von der Aargauer Polizei freigestellt. Erst recht, als sie sich in aller Öffentlichkeit von einer Männergruppe provozieren lässt und handgreiflich wird. Seither hat sich etwas in ihr verschoben, noch mehr, weil ihr Mann Michael im Streit um ihre Alkoholprobleme von ihr wegfuhr und im Auto auf der Autobahn den Tod fand. Das Haus in Maine, in das sie sich zusammen mit ihrem Mann einst verliebte, das sie kauften und ausbauen liessen, in dem sie ihren gemeinsamen Lebensabend verbringen wollten, wird zum Fluchtpunkt, zusammen mit Xanax, Psychopharmaka mit grossem Suchtpotenzial, das sie hinter Albert Camus› «Die Pest» im Bücherregal versteckt. Sie ist sich selbst ausgesetzt, ihren Träumen, ihren Ängsten, ihrer Trauer.
Bis sie in einer stillen Bucht beim Schwimmen auf die Leiche eines Ermordeten stösst, der im Wasser treibt, die Griffe einer Hummerzange durch die Augen bis tief ins Hirn gestossen. Sie kennt den Mann. Jeder auf er Insel kennt den Mann; Norman Dunbar, ein Investor und Radikalsanierer in Schieflage gekommener Unternehmen, ein ominöser Geschäftsmann und Frauenverbraucher, einer, dessen Tod auf vielen Wunschlisten ganz oben gestanden hätte. Corinne Holder macht sich an die Ermittlungen, nicht zuletzt darum, weil sie ihrem Leben wieder Richtung geben.
«Die Hummerzange» liest sich bis zur letzten Seite spannend, wie es ein Krimi sein soll. Aber die Geschichte lebt ebenso von der Person, einer Frau, die den Halt, den sicheren Stand verloren hat, die dem Leben nicht mehr traut und schon gar nicht sich selbst. Er lebt vom Lokalkolorit, der nicht aufgesetzt und recherchiert ist. Hansjörg Schertenleib erzählt vom Ort, an dem er mehrere Monate im Jahr lebt, von den Menschen, den Gerüchen, den Dörfern und Felsen dort. Vom Meer, dem Licht und den zwei Seiten einer Insel, die man gerne fotografiert. Handwerklich perfekte Unterhaltung, ein gelungener Versöhnungsversuch für ein von mit sonst so verschmähtes Genre.
Während ich schreibe, sitzt Hansjörg Schertenleib auf Spruce Head Island ebenfalls hinter seiner Tastatur, an seinem neuen, zweiten «Maine-Krimi». Ich freue mich!
Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich, machte die Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. 1981 zog er ins Künstlerhaus Boswil, arbeitete dort halbtags in der Küche und schrieb sein erstes Buch «Grip». Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, 1980 bis 1984 und seit 2016 erneut Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift «orte», von 1984 bis 1989 Mitglied im Vorstand im Schweizerischen Schriftstellerverband. Seit 1985 journalistische Tätigkeit für verschiedene Zeitungen und Magazine, in der Spielzeit 1992/1993 Hausautor am Theater Basel unter Frank Baumbauer. Zwischen 1996 und 2016 lebte er in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA.
Rezension von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch
Kurzgeschichte «Der Stich» auf der Plattform Gegenzauber
Beitragsbilder © Hansjörg Schertenleib