Titelgebender Text ist Gertrud Leuteneggers Rede zur Verleihung des Grossen Schillerpreises an den Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli, gehalten 2012. Mittlerweile ist der grosse Tessiner gestorben. Mit dem Text setzt Gertrud Leutenegger dem Dichter ein Denkmal. Einem Dichter, der sich wie Gertrud Leutenegger nicht um Strömungen bemühte, der nicht nach Exklusivität und Originalität suchte, sondern schon in der Art seines Schreibens zum Subversiven wurde.
Gertrud Leutenegger ist in ihrem Denken und Schreiben eine Schwester Giovanni Orellis. Sie kann etwas, was mir selbst vollständig entgeht. Ob sie sich mit den Schriften, dem Schreiben und Streben des Dichters Novalis auseinandersetzt, der untergegangenen Welt der stillen Dichterin Cathrine Colomb oder einer Fahrt im Postauto von Chiasso hinauf in die Berghänge weg vom Tessiner Mendrisiotto – Gertrud Leutenegger taucht in einer Intensität in Welten ein, der ich allerhöchstens in ihren Texten folgen kann. In dieser Feststellung offenbart sich eine Mischung aus Neid und Scham. Gertrud Leutenegger ist erfüllt, durchtränkt von Sprache, Klang und Textmusik. Es ist zu befürchten, dass sie wie der Dichter Giovanni Orelli zu einer aussterbenden Sorte Mensch gehört, die sich nicht betäuben wollen, die sich nicht einmal davor schützen müssen. Gertrud Leutenegger ist im menschlichen Spektrum diametral entfernt von all jenen, die sich in rasenden Zügen, mit Kopfhörern zugestöpselt und mit dem Finger über Minibildschirme wischend durchs Leben zerren lassen. Gertrud Leuteneggers Texte, auch ihre Romane, entschleunigen, zeigen, was Leben und Denken wäre, würde ich mich nicht dauernd wegtragen lassen. Die Schriftstellerin beschreibt im Buch «Das Klavier auf dem Schillerstein» auch eine Reise im Zug mit dem Dichter Gerhard Meier und seiner Frau Dorli nach Graz. Gerhard Meier, auch ein grosser Stiller, ein Massiv an Verborgenem und zu Entdeckendem, ein Gigant hinter der Maske des Kleinbürgerlichen, ein grosser Schweizer Schriftsteller. Ein einziger Satz auf jener Reise war es damals, vor Jahrzehnten, der die Dichterin noch immer umtreibt, der einen tiefen Krater in ihr Bewusstsein gerissen hat und genauso gut als Titel für dieses wunderbare Büchlein gepasst hätte:
«Man muss hysterisch an der Freiheit interessiert sein.»
Was Gerhard Meier genauso wie Gertrud Leutenegger unter Freiheit verstehen, unterscheidet sich erschreckend von dem, was uns die Gegenwart in Medien und Konsum einzubläuen versucht. Ohne es zu wollen ist Gertrud Leutenegger ein Hohelied auf die Langsamkeit gelungen, wider aller Betäubung und jedem hohlen Rausch.
Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014).
Am Freitag, den 1. Dezember 2017, um 20 Uhr, liest Gertrud Leutenegger aus „Das Klavier auf dem Schillerstein“ im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG, Moderation: Bernhard Echte, Verleger Nimbusverlag